Überbringer von Botschaften und Wegweiser

Hans Pfleiderer • 24. Februar 2019

mit Englischer Übersetzung

Die neue Monografie Scenography / Szenografie 2 - Staging Space / Der Inszenierte Raum beschreibt die Schaffensperiode der letzten 21 Jahre des auf spektakuläre Museumsgestaltung spezialisierten Szenografen Prof. Uwe R. Brückner und seines Ateliers seit Firmengründung im Jahre 1997. Der 432 Seiten umfassende Band, ein Nachschlagwerk seiner Gestaltungslehre, besteht aus zwei illustrierten Blöcken von Projektbeschreibungen von 1997-2013 und 2014-2018 und flankieren den 142-seitigen Mittelteil Philosophie.

Ist es heute nicht befremdlich, ins Museum zu gehen? Der Historiker Hans Peter Schwarz zitiert Thomas Bernhard in Frank den Oudstens ähnlich ambitionierten Buch über Szenografie space.time.narrative: the exhibition as post-spectacular stage : „Die Leute gehen nur ins Museum, weil ihnen gesagt wurde, was eine zivilisierte Person zu tun hat, nicht aus Interesse. Die Menschen interessieren sich nicht für Kunst.“ Nun wollen wir mal sehen.

Die Einleitung zu dem vorliegenden Buch hat die Überschrift Atelier Brückner und die Gesellschaft des Spektakels und wurde von dem Schweizer Grafiker Ruedi Baur, der mit Uwe R. Brückner an Projekten und in der Lehre gearbeitet hat, geschrieben. Der Titel ist eine Anspielung auf das 1967 erschienene Buch Die Gesellschaft des Spektakels des Franzosen Guy Debord, der als Gesellschaftskritiker die Konsumgesellschaft anprangerte. Er wird hier mit dem Satz „Wo die reale Welt in vereinfachte Bilder verwandelt wird, werden aus diesen einfachen Bildern reale Wesen und die effizienten Motive für hypnotisches Verhalten.“ zitiert. Das klingt ziemlich esoterisch, ist aber ein politisches Statement. Ruedi Baur spricht im gleichen Atemzug von „Demokratie“, die dem Museumsbesucher wiedergegeben werden soll. Die Häuser beschränken sich allerdings nicht nur auf die wahlberechtigten Bürger, sondern besonders auf ihre Sprösslinge. Die Besucher kommen ja als Individuen, nicht um zu wählen, sondern schlichtweg, um sich und ihre Kinder zu unterhalten oder nebenbei zu bilden. Aber wenn hier mit Debord auf uns geschossen wird, dann wird im gleichen Tenor mit Adorno geantwortet. Er schrieb zu etwa derselben Zeit: „Alle Kultur wird zur Ware; Kunst definiert sich über ihren ökonomischen Wert, nicht nach ästhetischen Gesichtspunkten, die für die Analyse des autonomen Kunstwerks der bürgerlichen Gesellschaft eine Rolle spielen.“ Damals tummelten sich jede Menge Neo-Marxisten auf der Bühne des Lebens und polemisierten eine Gesellschaft, die so demokratisch wie noch nie in West-Deutschland in der 2. Hälfte des 20. Jahrhunderts war, gerade weil jenseits des Eisernen Vorhangs mit der Planwirtschaft Kultur hergestellt und eine Utopie erträumt wurde. Es gab die berechtigte Angst, dass Kulturgüter zu Konsumgütern verkommen könnten. Guy Deborg schrieb weiter in seiner Voraussetzung Nr. 30 in demselben Buch: „Die Entfremdung des Zuschauers zugunsten des angeschauten Objekts drückt sich so aus: je mehr er zuschaut, um so weniger lebt er; je mehr er sich in den herrschenden Bildern des Bedürfnisses wieder zu erkennen akzeptiert, um so weniger versteht er seine eigene Existenz und seine eigene Begierde.“ Das war eine ziemlich düstere und geringschätzende Einstellung. Aus Eine kurze Geschichte der Menschheit von Yuval Noah Harari entnahm ich: „Die Geschichte der menschlichen Kulturen wurde von drei großen Revolutionen geprägt“, die kognitive Revolution vor etwa 70000 Jahren, die landwirtschaftliche Revolution vor rund 12000 Jahren und die vor knapp 500 Jahren ihren Anfang nehmende wissenschaftliche Revolution. Ihr untergeordnet war die französische Revolution eine gesellschaftspolitische und der summer of love der Hippie-Bewegung in San Francisco des Jahres 1967 und dem Woodstock Festival 2 Jahre später möglicherweise eine musikalische.

„If you’re going to San Francisco,

be sure to wear some flowers in your hair.

If you come to San Francisco,

Summertime will be a love-in there.“

Song San Francisco von The Mamas and the Papa s, performed by Scott McKenzie in 1967.

Die herrschaftliche Verwaltungsform von Kunst und Kultur ist mittlerweile eine Industrie geworden, die gerade auch die Künstler und Intellektuellen nötigt, Artefakte und Wissen in einer Kosten-Nutzen-Relation zu produzieren. Daher befolgen die Institutionen heute weitgehend den Auftrag unserer momentanen Herrschaftsform, die der Auftraggeber auch für die Szenografen ist. Erich Fromm nannte die Ideologie der Kulturindustrie „sozialer Kitt“. Karl Marx geht sogar so weit, im Zusammenhang von eben diesen Konsumgütern von Fetischismus zu sprechen, die religionsähnliche Verehrung von Objekten, die unser Sein und Wohlbefinden bestimmen. Sigmund Freud nannte es schlicht eine „emotionale Fixierungen“ in unserer Gesellschaft und die liese sich vielleicht mit LSD sprich Lysergsäurediethylamid auflösen, was zu dem Zeitgeist dieser vergangenen Epoche passte.

Wie wollen die Künstler nun die nächste Revolution anpacken? Der Szenograf und seine Disziplin sollten allerdings darüber erhaben sein, sich für eine politische Ideologie instrumentalisieren zu lassen, auch wenn das unter dem humanistischen Bildungsanspruch und dem romantischen Befreiuungsideal geschehen würde. Diese Zeiten sind vorbei, aber sie wirken noch stark in unseren Köpfen. Kirchen und Religionen sind seit Jahrhunderten mit der Renaissance, der Aufklärung und den Erkenntnissen der modernen Wissenschaften obsolet geworden. Dieses Vakuum versucht die Gesellschaft mit Kultur zu füllen und hat neue Mythen erfunden, die das Zusammenleben in unseren komplexen Habitaten ermöglichen und für Abwechslung und Genuss sorgen sollen. Da wir uns auf den unschätzbaren und ökonomischen Wert von Kulturgütern geeinigt haben, werden diese als Attraktionen gehandelt und in Museen öffentlich zur Schau gestellt. Und ja, es mutet wie ein Spektakel an und es gib nach wie vor die Angst, dass Kulturgüter zu Konsumgütern verkommen könnten.

Museen und ihre Ausstellungsgestalter haben vorerst die Besucher, für die die Tore der heiligen Hallen geöffnet werden, im Visier und müssen sich allenfalls vor der medialen Kritik und eventuell den Gremien der Kulturbeauftragten verantworten. Wenn Millionen von Besuchern kommen, dann kann man getrost glauben, dass die Politik ein Interesse haben könnte, die Inhalte vorzugeben. Wissen ist nach wie vor in den Händen von Institutionen. Früher waren es die Monarchen, Religionsführer und Universitäten, heute sind es Google & Co. Museen hatten ihren Ursprung in der Antike. Diese gaben ihnen auch den vom altgriechischen Wort μουσεῖον abgeleiteten Namen, was so viel wie Heiligtum der Musen bedeutet und neben anthropologischen und künstlerischen Deponaten auch Bücher und Schriften sammelte. Im Humanismus wurden dann die ersten säkularen Institutionen gegründet. Zweck eines Museums war und ist die fachgerechte und dauerhafte Aufbewahrung von historischen Zeugnissen zu einem bestimmten Thema oder kulturellen Bereich. Diese Sammlungen werden den Besuchern zugänglich gemacht. Schauen wir auf die Geschichte der Museen zurück, dann waren diese vor ein paar Jahrhunderten nur für Adlige, Gelehrte und Studenten der Universitäten zugänglich. Sie gingen oftmals aus Wunder- oder Kunstkammern der Könige, kirchlicher Würdenträger oder Kunstsammlungen der reichen Elite hervor. Heute sind manche Städte gerade für ihre Museen berühmt und es wird eifrig am Image gefeilt, weil das dem Tourismus zuträglich ist. Die größten Museen der Welt sind das Chinesische Nationalmuseum in Beijing , die Hermitage in St. Petersburg , der Louvre in Paris und das Metropolitan Museum in New York City . Das British Museum in London wurde 1759 eröffnet und gilt als das älteste Museum der Welt. Aber auch in unseren deutschen Museen haben wir Dank der Ausstellungsgestaltungen von Atelier Brückner und seinen szenografischen Kollegen mittlerweile einen internationalen Ruf und ziehen Gäste aus der ganzen Welt an. Dies sind wichtige Orte, um sich über die Eigenheiten und Werte von Kulturen zu informieren. Eintrittsgelder sind heute neben staatlicher Förderung wichtiger Bestandteil der Finanzierung. Von der Antike bis ins 19. Jahrhundert war z.B. das Theater der wichtigste kulturelle Treffpunkt in den städtischen Hochburgen. Im 20. Jahrhundert wurde dieser Ort allerdings vom Kino und seit den 50 Jahren vom Fernsehen abgelöst. Leute blieben lieber zu Hause und tranken ihr Bier oder rauchten einen Joint. Um dagegen ein attraktives Angebot bereitzustellen, entstanden ca. 1980 Erlebnismuseen, bei denen die „experience“ und Inhaltevermittlung im Mittelpunkt stand. Dieses Konzept ist nach wie vor der Standard und erlaubt Mitmachen oder Interaktivität. Anders als beim staubigen, klassischen Museum soll das Erlernen nicht mehr primär über Kognition wie Schrift, sondern ganzheitlich mit allen Sinnen erfahren werden. Bei der neuartigen Ausstellungssprache kommen selbstverständlich neueste Technologien zur Anwendung, um die Sinne, Wünsche und Interessen der mediengewohnten Besucher zu befriedigen. Diese Besucherorientierung ist auch betriebswirtschaftlicher und kundenfreundlicher. Sogenannte Science Center unterscheiden sich konzeptionell kaum von Erlebnismuseen. Sie stellen aber keine künstlerisch oder historisch wertvollen Exponate aus, sondern vermitteln wissenschaftliche Erkenntnisse mittels Experimentenaufbauten, die man oft mit einem Knopfdruck auslösen kann. Einen ganz besonderen Reiz stellen die vielen Expos oder Corporate Visitor Centers und Showrooms dar, wo so richtig geklotzt werden darf. Für den Pavillion des nationalen chinesischen Stromversorgers State Grid schaffte Atelier Brückner eine „Magic Box“, die im Jahre 2010 von 3,2 Millionen Besuchern besucht wurde. 17 Millionen LEDs mit einer 20x20 Millimeter Auflösung hinter Diffuser-Paneelen und einer 48-Kanal Tonanlage erlaubten „eine beeindruckende Synchronizität von Bewegtbild, Ton und Narration“.

Ich möchte Ihnen nun den Hauptteil dieses Buchs vorstellen. Was die Bilder und Erklärungen fast genauso gut hinbekommen wie die wirklichen Erlebnisräume in den Ausstellungen, ist ein in-Staunen-versetzen und neugieriges Wissenwollen. Durch diese inszenierten Räume entsteht eine Hyperrealität fern von der gefürchteten Hypnose. Die Themen in den 2 Kapiteln Projekte lesen sich so: Schiffsunglück, Konsumverhalten, erneuerbare Energie, Imagination, Grenzerfahrung, Landesgeschichte, Ausgrabung, Forensik, Handel, Automobil, Ethnologie, Elektrizität, Teilchenbeschleuniger, Textilherstellung, Film, Fabrikgelände, Seefahrt, Europaparlament, Sitzmöbel, Markenerlebnis, Wandmalerei, Energiefeld, Evolutionstheorie, Dampflokomotive, Demografie, Medizintechnik, Bergwelt, Wikingerschiff, Archäologie, Mobilität, Schokolade, Sonnenenergie, Älterwerden, Hutmode, Völkerkunde, Aquarium, Bauernhöfe, Fundorte, Europäische Union, Umnutzung, Chirurgie, Besucherforum, Automobillegende, Biografie, Innovation, Whisky, Uhrwerk, Kulturzentrum, Kunstverein, Ägypten.

Die hervorragend gewählten Bilder und knappen Beschreibungen sprechen ganz für sich alleine.

Auswahl an Pressefotos 1-20 (siehe Bildnachweis)

Der Mittelteil ist der umfangreichen Kreativmethode des Ateliers gewidmet, die Uwe R. Brückner schon explizit in seiner vorangegangenen Monographie Szenografie/Narrative Räume/Projekte 2002-2010 vorstellte. Er kommt aus der Architektur, was sein groß(form)artiges Ästhetikverständnis verrät, und dem Theater, wo er als Bühnenbildner wirkte. Er spricht einleitend über Theater als definierenden Einfluss in der Berufsfindung des Szenograf. Aus dem Altgriechischen leitet sich Szenografie ab von skené, ursprünglich eine Art Kiste, Umkleidekabine oder Vorhang, was Teil der Bühne wurde, und graphein, was schreiben oder malen heißt, also so viel wie eine „Bühne malen“ bedeutet. Mit den neuen Technologien um die Jahrtausendwende kam es zu einer Durchmischung der gestalterischen Disziplinen und einer Fülle von neuen Designoptionen. Sein Credo ist seit Anbeginn „Form folgt Inhalt“ oder form follows content . Davon ausgehend leitet sich seine Arbeitsweise und die des 108-köpfigen Teams ab. Der kreative Prozess, der in Workshops mit den Kunden und Kollaborateuren stattfindet, funktioniert wie ein Algorithmus und orientiert sich an Inhalt-Objekt-Raum-Rezipient-Dramaturgie = Ergebnis. Für die Rezipienten, um die es in erster Linie geht und welche die protagonistischen Exponate betrachten, bedeutet das Sinneswahrnehmung-Emotion-Erkenntnis-Bedeutung = Erlebnis. In der Konzeptphase wird mit der Synopsis und einem Exposé begonnen, dann werden Skizzen, Storyboards, räumliche Gestaltungsvorschläge angefertigt und mediale Elemente wie Grafik, Filmprojektion, Ton, usw. alles zusammen in einer matrixartigen Partitur wie Instrumente oder Stimmen organisiert und durchgespielt, bis die fertige Choreografie als Raum-Zeit-Folge in die Realität umgesetzt wird. Der Besucher eines Museums hat entgegen dem Zuschauer eines Theaterstücks, der in der Regel fest auf seinem Platz sitzt und zuschaut und zuhört, den Vorteil, dass er sich den Objekten nähern und oft sogar um sie herumgehen kann, um so die Eindrücke durch verschiedene Perspektiven zu vertiefen. Licht, Schrift und andere Mittel sind dabei Leitsysteme, um zur bloßen visuellen Wahrnehmung und Raumwirkung Informationen zu liefern, die Aufschluss geben über Entstehungszeit, Anfertigung, vielerlei Bedeutungen, Trivia und als konzeptueller Teil der Gesamtinszenierung der Ausstellung funktionieren. Dafür wählten die Kuratoren die relevanten Exponate und Inhalte aus und engagierten den Szenograf, um einen Parcours anzulegen. Uwe R. Brückner schreibt: „Im Sinne der Besucherführung wird zwischen drei Typen unterschieden: Als „free flow“ wird dem Besucher die Entscheidung überlassen, wie er die Ausstellung durchlaufen und in welcher Reihenfolge er Raum, Inhalte und Objekte erleben möchte. Demgegenüber steht der definierte Parcours, der eine festgeschriebene Route vorgibt und einer bestimmten Dramaturgie folgt“, die chronologisch, thematisch oder topografisch angelegt ist und zuletzt der optionale Parcours, der einer Ideallinie folgt, aber Exkursionen zulässt. Die Architekten und Gestalter im Atelier verstehen sich als Generalisten, die mit dem Bleistift wie auch dem Zollstock oder Hammer umgehen können. Nach in der Regel jahrelangen Planungs- und Bauzeiten, die der Komplexität und dem hohen Qualitätsanspruch geschuldet sind, werden die Hallen geöffnet und hoffentlich gefällt und inspiriert es unsere Bürger.

Was ist Szenografie heute? Eine multimediale Raum-Objekt-Inszenierung. Um was geht es? In der Konzeptphase untersucht das Atelier die Aufgabenstellung und prioritisiert Thema und Inhalte. Dann werden die Protagonisten in eine Geschichte gebettet, die nach Aristoteles Poetik die Konventionen des Geschichtenerzählens und offene Geheimnisse des Dramatischen mit Einleitung-Hauptteil-Schluß oder Exposition-Konflikt-Resolution als Tiefenstruktur verwendet. Der Höhepunkt, die Klimax darf natürlich auch nicht fehlen und da verweist Uwe R. Brückner auf Alfred Hitchcock und sein dramatisches Genie und Wissen um Spannung oder „suspense“. Subtil benutzte Hinweise auf das, was noch kommt, kann eine Geschichte vorantreiben. Die Absicht des Gestalters ist, das Erlebnis in höchstem Masse zu kontrollieren, aber nicht in einem negativen Sinne, sondern um eine originelle Erzählung, ein schlüssiges Gesamtbild und ein Raumerlebnis zu schaffen. Dabei sind die Medien nur Mittel, Instrumente oder Effekte. Auch der Raum spielt eine entscheidende Rolle und will verstanden werden. Was sind „seine Dimensionen, seine Raumhülle, Materialität, und seine Bespielbarkeit … Der Raum wird durch seine Öffnungen wie Eingang und Ausgang, aber auch durch Fenster, die den Raum zu einem Tageslichtraum oder bei Abschottung zu einer Black Box verwandeln, charakterisiert.“ Er bietet auch unser Grammatiksystem und Semantik mit Substantiv/Adjektiv/Verb/Syntax als Analogie und prozessförderndes Ordnungsprinzip an. In dieser reichen Werkzeugkiste und Erfahrungswelt verwandelt sich sein Geschick in Magie.

Skizze 1 von Uwe R. Brückner

Skizze 2 von Uwe R. Brückner

Skizze 3 von Uwe R. Brückner

Szenografen sind durch ihre Ausbildung oder interdisziplinären Interessen in Bereichen wie Architektur, Theater, Oper, Film, Musik, Kunst und Technologie versiert. Sie wählen ihren kreativen Prozess frei aus, um mittels empirischer Erfahrung, aber auch durch Divergenz mutig die Grenzen des Denkbaren und Machbaren zu überschreiten. Daher sind Leute wie Peter Greenaway oder Robert Wilson in vielen unterschiedlichen Domänen zuhause und es entstanden Kunstwerke wie z.B. Filme von Stanley Kubrick, einigen der Mainstream-Regisseure aus Hollywood wie James Cameron oder Architekturen von den Genialen der Neuzeit wie Norman Foster, Frank Gehry oder Coop Himmelb(l)au. Das Atelier Brückner hat es schon lange bewiesen, dass es zu diesen Kreis gehört.

Hier sind noch 2 erhellende Beispiele aus dem Theorieteil:

1) Der Afrikanische Pavillon auf der Expo Saragossa 2008 präsentierte afrikanische Länder in einem der bestehenden Pavillons. Der Pavillon war im Inneren eine Blackbox mit einer visuellen Membran, welche die Inhalte permeabel von innen nach außen transportierte. Die Medienfassade war 6 Meter hoch und 218 Meter lang. Diese bestand aus einem LED-Raster hinter windbewegten transluzenten Plättchen und erlaubte damit zwei Aggregatzustände: Die bedruckten Plättchen zeichneten die Windbewegung wolkenhaft nach. Das dahinterliegende LED-Raster bildete Panoramen mit lebensgroßen Elefanten, Giraffen oder Zebras ab.

Afrikanischer Pavillon, Expo Saragossa, 2008, Pressefotos 21-23 (siehe Bildnachweis)

2) In „That’s Opera“ vom Musikverlag Ricordi in Brüssel wurde 2008 die Struktur einer Partitur als Dauerausstellung inszeniert. Das „Präludium“ beginnt mit dem Durchschreiten mehrerer Vorhänge, hinter denen Musik spielt. Dann folgt der Raum „Libretto“, der an Rodolfos Dachkammer in La Boheme erinnert. Die darauffolgende Schatzkammer „Partitura“ zeigt in respektvoller Stille verschiedene Original von Gaetano Donizetti bis Luigi Nono. Im „begehbaren Orchestergraben“ können die Besucher die Aufführung verschiedener Opern an einer interaktiven Partitur verfolgen. Über die „Scenografia“ mit Bühnenbildern und der Schneiderei ”Voci é Costumi“ gelangen die Besucher zur „Rappresentazione“, der Aufführung einer 13-minütigen „Aida“ Fassung mit Panorama-Raumprojektion.

That’s Opera, Musikverlag Ricordi, Brüssel, 2008, Pressefotos 24-26 (siehe Bildnachweis)

Uwe R. Brückner und sein Team sind Überbringer von Botschaften und Wegweiser oder Weise des Weges, den sie sorgsam durch die vorhandenen oder neu gebauten Räume planen und somit einen gewollten, sinnvollen Zusammenhang zwischen Objekten, ihren Geschichten und der Welt schaffen.

Bildnachweis:

1) BMW Museum, München, 2008, BMW Platz , Foto: Marcus Meyer 2) Deutsche Börse, Frankfurt am Main, 2008, Umgestaltung Handelssaal, Vogelperspektive , Foto: Uwe Dettmar 3) Rautenstrauch-Joest-Museum, Köln, 2010, Prolog , Foto: Michael Jungblut 4) Magic Box, State Grid Pavilion, Expo Shanghai, 2010, State Grid Pavillon–Außenansicht Nacht–Detail , Foto: Roland Halbe 5) tim - Staatliches Textil- und Industriemuseum, Augsburg, 2010, Textil Endfertigung , Foto: Volker Mai 6) Deutsches Filmmuseum, Frankfurt am Main, 2011, Functional Models, Foto: Uwe Dettmar 7) Het Scheepvaartmuseum – Object Galleries, Ostflügel, Amsterdam, 2011, Globen , Foto: Michael Jungblut 8) Parlamentrium, Besucherzentrum des Europäischen Parlaments, Brüssel, 2011, United in Diversity, Foto: Rainer Rehfeld 9) TextilWerk Bocholt – Spinnerei, 2011, Außenansicht bei Nacht , Foto: Mac Tanó 10) Darwineum, Rostock, 2012, Themenkabinett: Baupläne des Lebens , Foto: Michael Jungblut 11) GS Caltex Pavilion, Expo Yeosu, Korea, 2012, Interaktive Blades , Foto: Nils Clauss 12) Kusch+Co Messestand, Milan Design Week, 2012, Installation , Foto: Michael Jungblut 13) Aesculap Akademie – Expertisium, Bochum, 2013, Großinstallation Mensch , Foto: Brigida González 14) Haus der Berge, Berchtesgaden, 2013, Lebensraum Wald – Winter , Foto: Michael Jungblut 15) Zukunft leben: Die demografische Chance, Berlin, 2013, Übersicht , Foto: Michael Jungblut 16) MEG - Musée d'ethnographie de Genève, Genf, 2014, MEG I Archiv , Fotos: Daniel Stauch 17) Shanghai Auto Museum – Collection Pavilion, Shanghai, China, 2014, Collection Pavilion , Foto: Shanghai Auto Museum 18) Den Blå Planet, Kastrup, Dänemark, 2015, Zustand der Ozeane , Foto: Klaus Reinelt 19) Museum Tiroler Bauernhöfe, Kramsach, Österreich, 2015, Pavillon Herrschaft , Foto: Gabriele Grießenböck 20) August Horch Museum, Zwickau, 2017, Automobil trifft Architektur, Foto: Daniel Stauch 21) E2, 22) E2 Detail , Foto: Luis Asin 23) E2 Detail , Foto: Claudia Luxbacher 24) Modell Aufsicht, 25) Prolog, 26) Partitur , Foto: A. T. Schaefer


Scenography / Szenografie 2

Staging Space / Der Inszenierte Raum

Atelier Brückner

432 pages / Seiten

Birkhäuser Verlag GmbH, Basel, 2019

Price $ 85.37 / Preis 59,95 €

Englische Übersetzung / english translation:

Messengers and Pathfinders

Book review by Hans Pfleiderer, March 7th 2019

The new monograph Scenography / Szenografie 2 - Staging Space / Der Inszenierte Raum describes the creative period of the last 21 years of the scenographer and spectacular museum design specialist Prof. Uwe R. Brückner and his studio since the company was founded in 1997. The 432-page volume, a reference work of his design theory, consists of two blocks of project descriptions from 1997-2013 and 2014-2018 and frames the 142 page long middle section philosophy.

Isn’t it strange today to go to the museum? The historian Hans Peter Schwarz quotes Thomas Bernhard in Frank den Oudsten's similarly ambitious book on scenography space.time.narrative: the exhibition as post-spectacular stage : "People only go to the museum because they’ve been told that’s what a civilised person has to do, not out of interest. People aren’t interested in art.“ Let's see.

The preface to the present book has the heading Atelier Brückner and the Society of the Spectacle and was written by the Swiss graphic designer Ruedi Baur, who worked with Uwe R. Brückner on projects and in teaching. The title is an allusion to the 1967 published book The Society of the Spectacle of the French Guy Debord, who denounced as a social critic the consumer society. He is quoted here as saying „For one to whom the real world becomes real images, mere images are transformed into real beings - tangible figments which are the efficient motor of trancelike behaviour.“ That sounds pretty esoteric, but it's in fact a political statement. Ruedi Baur speaks in the same breath of "democracy", which has to be handed back to the museum visitor. However, the venues are not limited to the eligible citizens, but especially to their offspring. The visitors come as an individual, not to vote, but simply to entertain themselves or their children or rather educate themselves. But if you shoot at us with Debord here, you'll be answered equally with Adorno. He wrote around the same time: "All culture becomes commodity; Art is defined by its economic value, not by aesthetic considerations, which play a role in the analysis of the autonomous artwork of bourgeois society.“ At that time, many neo-Marxists romped on the stage of life and polemicized a society as democratic as never before in West Germany of the second half of the twentieth century, precisely because beyond the Iron Curtain centralised plan economy manufactured culture and an utopia was dreamed up. There was a justified fear, that cultural goods could become consumer goods. Guy Deborg went on to write in the same book, statement no. 30: "The estrangement of the viewer in favour of the object being viewed expresses itself as follows: the more he watches, the less he lives; the more he accepts to recognize himself in the prevailing images of need, the less he understands his own existence and his own desire.“ That was a rather gloomy and disparaging attitude. From A Brief History of Humanity by Yuval Noah Harari I deduced: "The history of human cultures was shaped by three major revolutions," the cognitive revolution some 70,000 years ago, the agricultural revolution some 12,000 years ago, and the scientific revolution since 500 years ongoing. As derivates there were the French Revolution , which was sociopolitical, and the summer of love of the hippie movement in San Francisco of 1967 and the Woodstock Festival 2 years later possibly a musical one. The stately administrative form of art and culture has meanwhile become an industry that is also compelling artists and intellectuals to produce artefacts and knowledge in cost-benefit manner. Therefore, the institutions today largely follow the order of our current form of governance, actually the client for the scenographers. Erich Fromm called the ideology of the cultural industry "social cement". Karl Marx even goes so far as to speak of fetishism in the context of consumer goods, the religion-like worship of objects that determine our existence and well-being. Sigmund Freud called it simply an "emotional fixations" in our society and that could perhaps be dissolve and treated with LSD aka Lysergsäurediethylamid, which expressed the Zeitgeist of this past epoch.

How do the artists want to tackle the next revolution? The scenographer and his discipline, however, should be beyond submitting to political ideology, even if that would happen under the humanistic educational motives and the romantic ideal of liberation. These times are over, but they are still stuck in our heads. Churches and religions for centuries already have become obsolete during the Renaissance, the Enlightenment and the findings of modern science. This vacuum society tries to fill with culture and has invented new myths that allow us to live together in our complex habitats peacefully and to provide distraction and pleasure. Since we have agreed on the incalculable and economic value of cultural goods, they are traded as attractions and publicly displayed in museums and elsewhere. And yes, it seems like a spectacle and there is still the fear, that cultural goods could become consumer goods.

For the time being, museums and their exhibition designers have been keeping an eye on the visitors for whom the gates of the hallowed halls have been opening and, if needed, have to answer to media criticism and possibly the boards of cultural commissioners. When millions of visitors come, one can confidently believe, that politics may have an interest in dictating content. Knowledge is still in the hands of institutions. It used to be the monarchs, religious leaders and universities, today it's Google & Co. Museums had their origins in antiquity. These also gave them the name derived from the ancient Greek word μουσεῖον, which means as much as the S anctuary of the Muses and in addition to anthropological and art items also collected books and other writings. In humanism, the first secular institutions were founded. The purpose of a museum has been the professional and permanent preservation of historical evidence on specific topics or cultural areas. These collections are made available to visitors. If we look back at the history of museums, a few centuries ago they were accessible only to nobles, scholars and university students. They often came out of miracle or art chambers of kings, church dignitaries, or art collections of the rich elite. Today, some cities are famous for their museums, and they are busily working on their image because that is conducive to tourism. The largest museums in the world are the Chinese National Museum in Beijing , the Hermitage in St. Petersburg , the Louvre in Paris and the Metropolitan Museum in New York City . The British Museum in London opened in 1759 and is considered the oldest museum in the world. But also in our German museums, thanks to the exhibition designs of Atelier Brückner and his scenographic colleagues, we now have an international reputation and attract guests from all over the world. These are important places to learn about the peculiarities and values ​​of cultures. Entrance fees are nowadays an important component of financing alongside state funding. From antiquity to the 19th century, for example, theatre was the most important cultural meeting place in the urban dwellings. In the 20th century, however, this locus was replaced by the cinema and television since the 50 years. People preferred to stay home and drink beer or smoke a joint. In contrast, in order to provide an attractive offer, around 1980 experience museums were created in which the focus was on this very "experience" and content mediation. This concept has been the standard and allows participation or interactivity. Unlike the dusty, classical museum, learning is no longer to be experienced primarily through cognition like deciphering type, but holistically with all the senses. It goes without saying that the latest technologies are used in the new exhibition language in order to satisfy the senses, wishes and interests of media-savvy visitors. This visitor orientation is also more business-minded and customer-friendly. Conceptually, so-called science centres hardly differ from experience museums. However, they do not display any artistically or historically valuable exponats, but convey scientific findings using experimental setups that can often be triggered with the push of a button. The many Expos or Corporate Visitor Centres and Showrooms are a very special attraction, too, where there are big budgets to spend. For the pavilion of the national Chinese electricity supplier State Grid Atelier Brückner created a "Magic Box", which was visited in 2010 by 3.2 million visitors. 17 million LEDs with a 20x20 millimetre resolution or pixel gate behind diffuser panels and a 48-channel audio system allowed "an impressive synchronicity of moving images, sound and narration“.

I would now like to introduce you to the main part of this book now. The pictures and explanations match the real experience spaces in the exhibitions, creating amazement and curiosity for knowledge. These staged spaces create a hyperreality far from scary hypnosis. The topics in the 2 chapters projects are: Shipwreck, Consumerism, Renewable Energy, Imagination, Borderline Experience, History, Excavation, Forensics, Commerce, Automotive, Ethnology, Electricity, Particle Accelerator, Textile Production, Film, Factory, Maritime, European Parliament, Chairs, Brand Experience, Mural Painting, Energy Field, Theory of Evolution, Steam Locomotive, Demography, Medical Engineering, Mountain World, Viking Ship, Archeology, Mobility, Chocolate, Solar Energy, Aging, Hat Fashion, Ethnology, Aquarium, Farms, Locations, European Union, Conversion, Surgery, Visitor Forum, Automotive Legend, Biography, Innovation, Whiskey, Clockwork, Cultural Centre, Art Association, Egypt. The excellently chosen pictures and concise descriptions speak for themselves.

The middle part is dedicated to the extensive creative method of the studio, which Uwe R. Brückner already explicitly presented in his previous monograph Scenography / Szenografie Making spaces talk / Narrative Räume Projects / Projekte 2002-2010. He comes from architecture, which explains his profound understanding of aesthetics, and theatre, where he worked as a set designer. He talks about theatre as a defining name-giving source for the invention of the profession scenographer. From ancient Greek, scenography is derived from skené , originally a kind of shed, dressing room or curtain, which became part of the stage, and graphein , which means writing or painting, combined to ”painting a stage . With the new technologies around the turn of the millennium came a fusion of creative disciplines and a flood of new design options. His credo has always been "form follows content". Based on this, his working method and that of his committed team of 108 employees are derived. The creative process, which takes place in workshops with the clients and collaborators, works like an algorithm and is oriented to content-object-space-recipient-dramaturgy = outcome . For the recipients, who are of primary concern and view or experience the exhibition protagonists, this means sensory perception-emotion-knowledge-meaning = experience . In the concept phase, a synopsis and an exposé are written, then sketches, storyboards, spatial design proposals are made and media elements such as graphics, film projection, sound, etc. added. All together are put into a matrix-like score organized like instruments or voices and rehearsed until it amounts to the finished choreography, which will be implemented and coming as a space-time sequence into fruition. Visitors to a museum have the advantage of being able to view and approach objects, and perhaps even walk around them in order to gain impressions from different perspectives, whereas the spectator of a play is usually sitting in his seat watching and listening. Lighting, graphics and other means are guiding systems for the mere visual perception and spatial effect, which can provide information about the artefact’s time of origin, production details, context, trivia and its function as a conceptual part of the overall staging of the exhibition. For this, the curators selected the relevant exponats and content and hired the scenographer to set up a parcours . Uwe R. Brückner writes, that there are three types of routing: with "free flow“ it is left to the visitor to decide how to go through the exhibition and in what order he wants to experience space, content and objects. On the other hand there is the defined parcours , which prescribes a fixed route and follows a certain dramaturgy arranged either chronologically, thematically or topographically. Finally there is the optional track, which follows an ideal path, but allows for excursions. The architects and designers in the studio see themselves as generalists who can handle a pencil as well as a ruler or hammer. After many years of planning and construction, which are due to the complexity and the high quality standards, the venues are opened and hopefully please and inspire our citizens.

What is scenography today? A multimedial space-object staging or scenario. What is it about? In the concept phase, the Atelier examines the task and prioritizes topic and content. Then the protagonists are embedded in a story that, according to e.g. Aristotle's poetics, might use the conventions of storytelling and open secrets of drama with beginning-middle-end or exposition-conflict-resolution as its spinal structure. Of course, a climax should not be absent. Uwe R. Brückner refers here to Alfred Hitchcock and his dramatic genius and ”suspense“. Subtly used clues to what is yet to come, can drive a story forward. The intention of the designer is to control the environment to the highest degree, but not in a negative sense, but to create an original narrative, a coherent overall picture and a spatial experience. The media gadgets are only auxiliary means, instruments or effects. The room also plays a crucial role and needs to be coherent. What are "its dimensions, its space envelope, materiality, and its playability ... The room is characterized by its openings like entrance and exit, but also by windows, which turn the room into a daylight room or, in the case of being blocked off, into a black box." He also utilizes our grammar system and semantics with noun / adjective / verb / syntax as an analogy and process-driving ordering principle. This rich toolbox and world of experience transforms his skill into magic.

Scenographers are well versed through their professional training and interdisciplinary expertise in areas such as architecture, theatre, opera, film, music, art and technology. They freely choose their creative process in order to boldly transcend the limits of what is thinkable and feasible through empirical experience, but also through divergence. Therefore, colleagues like Peter Greenaway or Robert Wilson are at home in many different domains, and works of art such as films by Stanley Kubrick and some of Hollywood's mainstream directors like James Cameron or modern genius architects like Norman Foster, Frank Gehry or Coop Himmelb(l)au share the same proficiency. Atelier Brückner has long proven that they belong to this circle.

Here are 2 illuminating examples illustrated in the theoretical part:

1) The African Pavilion at Expo Zaragoza 2008 presented African countries in one of the existing pavilions. Inside, the pavilion was a black box with a visual membrane that carried the contents permeably from inside to outside. The media façade was 6 meters high and 218 meters long. This consisted of an LED grid behind wind-driven translucent platelets and thus allowed two aggregate states: The printed platelets produced a cloud-like wind movement. The underlying LED grid formed panoramas of life-size elephants, giraffes or zebras.

2) In 2008, the structure of a music score was staged in "That's Opera" by music publisher Ricordi in Brussels. The area "prelude" begins with passing through several curtains behind which music plays. Then follows the room "Libretto", reminiscent of Rodolfo's attic in La Boheme. The subsequent treasury chamber "Partitura" shows in respectful silence different original scores from Gaetano Donizetti to Luigi Nono. In the "walk-in orchestra pit" visitors can follow the performance of various operas with an interactive score. Passing through "Scenografia" with stage sets and ”Voci é Costumi“ being a tailor shop visitors arrive at the "Rappresentazione", the performance of a 13-minutes "Aida" version with panorama projection.

Uwe R. Brückner and his team are messengers and pathfinders paving the way, which they carefully plan through the existing or newly built spaces and thus create a deliberate, meaningful connection between objects, their stories and the world.

Scenography / Szenografie 2

Staging Space / Der Inszenierte Raum

Atelier Brückner

432 pages

Birkhäuser Verlag GmbH, Basel, 2019

Price $ 85.37 / Preis 59,95 €

Schreibkram - paperwork

von Hans Pfleiderer 21. Dezember 2025
Ich bin der Wolf, den sie nicht bändigten, sondern banden.
 Nicht weil ich wild war, sondern weil ich sah – und verletzt war. Ich patrouillierte an den Rändern der Welt, dort, wo sich das Eis in haushohen Wänden von der Masse löst, in die Fluten stürzt und Bände spricht, während die Menschen gezwungenermaßen so tun, als schwiegen sie. Sie schwiegen, weil sie in ideologischer oder materieller Not waren – sie waren wider Erwarten schon wieder übergangen, nicht befördert, nicht gesehen worden. Und doch hörte ich zu, wie sie erst flüsterten, dann im Suff krakeelten und schließlich bösartig über andere redeten: über die Armen, über die Reichen, über „die da unten“ und „die da oben“.
 Nie aber mit ihnen. So ist es geblieben. Nur die Gewänder haben sich geändert. Heute heißen sie Redaktionen. Über die Elenden und die Unantastbaren Ziehen wir zwei Bestseller aus dem Regal einer verschwindenden Institution: dem Buchladen.
 * Und siehe da: Anna Mayr steigt hinab. Julia Friedrichs steigt hinauf. Die eine blickt in die Schächte der Gesellschaft, wo Formulare schwerer wiegen als Leben. Die andere in die verglasten Höhen, wo Geld sich selbst rechtfertigt. Beide sind Journalistinnen, beide Akademikerinnen, beide Teil jenes Systems, das sie beschreiben – und brauchen, oder gebrauchen. Beide erzählen von Gruppen, die in den Medien ständig vorkommen und doch sprachlos bleiben. In diesen Erzählungen erscheinen die Armen als Fall, die Reichen als Phänomen. Beide als Objekte. Denn das ist der eigentliche Skandal unserer Zeit: Die Betroffenen kommen nicht zu Wort. Es wird über sie berichtet. Journalismus als gezähmte Jagd Der Journalismus nennt das Aufklärung. Ich nenne es Zähmung. Lassen Sie mich ein paar Beispiele nennen: In der ZEIT spricht man sanft über soziale Ungleichheit, als wäre sie ein Naturphänomen. Präzise, klug, aber stets aus sicherer Höhe. Die New York Times katalogisiert Armut und Reichtum mit moralischem Ernst, doch ihre Stimme bleibt die des liberalen Staates: korrekt, distanziert, institutionell. Der New Yorker ästhetisiert beides – Elend wie Exzess werden zur literarischen Landschaft, wunderschön, fern, beinahe harmlos. Im Fernsehen ist es ein klein wenig gröber: Die ARD erklärt, ordnet ein, moderiert – Betroffene dürfen sprechen, aber nur in O-Tönen: kurz, geschnitten, entkräftet. Al Jazeera gibt den Ausgeschlossenen global mehr Raum, doch auch hier wird Leid oft zur geopolitischen Evidenz. Fox News schließlich kennt keine Ränder, nur Feindbilder: Armut ist persönliches Versagen, Reichtum moralischer Beweis. Dort sprechen die Betroffenen gar nicht – sie werden benutzt. Überall dasselbe mediale Muster: Sichtbarkeit ersetzt Stimme. Sensationalismus und die neue Ghettoisierung Reichtum wird exotisiert. 
Armut wird pathologisiert. Zurück zu unserer Auswahl aus dem Regal – solange es noch existiert: Crazy Rich funktioniert, weil es erlaubt, in Tresore zu blicken, ohne sie zu öffnen. Die Elenden schmerzt, weil es zeigt, dass das System funktioniert – nur nicht für alle. Doch beide Bücher laufen Gefahr, genau das zu tun, was sie kritisieren: Sie markieren Ränder, wo Verbindungen sichtbar gemacht werden müssten. Der Wolf in mir weiß das. Ich setze zu einem heiseren Jaulen an: Es gibt kein Oben ohne Unten. Kein Unten ohne Oben. Autobiografie als Wunde – Distanz als Schild Anna Mayr schreibt mit offener Haut. Ihre Biografie ist keine Zierde, sie heult auf wie ein Motor mit vielen Kilometern. Sie riskiert etwas: Glaubwürdigkeit durch Verletzlichkeit, Angriff durch Nähe. Julia Friedrichs bleibt hingegen geschützt. Ihre Distanz ist professionell – und politisch bequem. Sie riskiert weniger und gewinnt gerade dadurch Reichweite. Beides ist Journalismus.
Aber nur eines tut weh. Der gezähmte Wolf spricht zuletzt Ich bin gezähmt, ja. Ich produziere Dokumentarfilme, schreibe Kolumnen, Essays, Analysen, meinen Blog. Ich kenne die Sprache der Akademien, die Etikette der Redaktionen, die Eliten der Beschöniger. Ich war in Hollywood – bis ich es nicht mehr ertragen konnte: die Zähmung. Doch ich erinnere mich an eine Zeit, in der Geschichten nicht über Menschen erzählt wurden, sondern von ihnen. Der Journalismus unserer Gegenwart ist klug, moralisch, vielfach preisgekrönt – und doch oft feige. Er spricht für andere, weil er ihnen nicht zutraut, selbst zu sprechen. Oder schlimmer: weil ihre Stimmen das System stören würden, das ihn bezahlt. Ich heule nicht. Ich jaule. Und ich vergesse nicht. * Julia Friedrichs, Crazy Rich: Die geheime Welt der Superreichen, Berlin Verlag, 2024, ISBN: ‎ 978-3827015129 https://www.amazon.de/Crazy-Rich-geheime-Welt-Superreichen/dp/382701512X Anna Mayr, Die Elenden: Warum unsere Gesellschaft Arbeitslose verachtet und sie dennoch braucht, Rowohlt Taschenbuch, 2023, ISBN: 978-3499011245 https://www.amazon.de/Die-Elenden-Gesellschaft-Arbeitslose-verachtet/dp/3499011247/ Bild: HP Entertainment
von Hans Pfleiderer 10. Dezember 2025
Die Inszenierung von Anne Bernreitner ist nicht bloß ein Eigentor, sondern ein Volltreffer ins eigene Gesicht — eine Operetten-Implosion, bei der selbst Johann Strauss im Jenseits nach einer Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung greifen würde. Das Opernhaus Zürich hat Die Fledermaus nicht aus ihrem Traum gerissen, nein — es hat sie betäubt, seziert, falsch zusammengenäht und dann stolz behauptet, es handle sich um ein zeitgenössisches Update . Die Stromleitung, von der Strauss seine funkelnde Spannung bezog, wurde von Bernreitner & Co. kurzerhand an den Starkstromkasten des politischen Moralunterrichts angeschlossen. Jeder Ton durfte nur noch durch, wenn er zuerst durch den Genderfilter, den Selbstoptimierungsprüfer und den identitätspolitischen TÜV geschickt worden war. Währenddessen zahlte das Publikum Preise, bei denen selbst die Zürcher Immobilienbranche errötet. 335 Franken für eine Premiere, die sich aufführte, als wäre sie ein pädagogischer Wandertag mit musikalischem Materialrecycling . Und dann die seichten Lobhudeleien im Anschluss, die Beschönigungsrede eines frisch installierten Intendanten, der noch immer den Duft der Vertragsmappe im Haar trägt — alles garniert mit billigem Sekt, der vermutlich die gleiche Herkunft hat wie die Ideen des Abends: aus der Abteilung „Alles muss weg“ . Der Abend fühlte sich an wie ein gut gemeinter Kindergeburtstag, organisiert von Menschen, die gleichzeitig Angst vor Luftballons, Kuchen und Spaß haben. Das wirkliche Drama beginnt aber dort, wo Strauss in Zürich zum Fallbeispiel eines gesellschaftlichen Therapieseminars umfunktioniert wurde. Operette? Nein — Zwangsbeglückung mit theoretischem Kunstdünger. Man schaufelte so viel Jelinek, Menasse, Jung, Adichie und GCI darüber, dass darunter selbst ein Mammut erfrieren würde. Es war, als hätte jemand gesagt: „Die Fledermaus ist fröhlich — das können wir so nicht stehen lassen! Schnell, bringt Ernsthaftigkeit! Ernsthaftigkeit!! Und Tango! Und Textbausteine!“ Und jemand anders rief: „Wir retten das Stück, indem wir es vollständig austauschen!“ Der Abend war eine politische PowerPoint-Präsentation im Kostüm einer Operette . Ein dramaturgischer Zauberkasten, aber leider einer, bei dem jedes Fach mit denselben drei Tricks gefüllt ist: 1. Ironisierung, 2. Dekonstruktion, 3. Überdeutung und am Ende das große Finale: „Wir wissen’s besser als Strauss.“ Lustig nur, dass Strauss seit 1874 ununterbrochen gespielt wird — Bernreitner muss erst noch beweisen, dass sie morgen in Zürich noch jemand kennt, der nicht beruflich dazu verpflichtet ist. Und so verließ ich den Saal wie jemand, der erkennt, dass er nicht in einer Operette saß, sondern in einem soziopolitischen Escape Room , aus dem man nur durch spontane Selbstachtung entkommt. Ich glitt die Treppe hinunter, bestellte Champagner mit derselben Verzweiflung, mit der andere Menschen auf Schmerzmittel zugreifen, und erhob mein Glas auf eine Erkenntnis, die mich unerwartet tröstete: Die Zürcher Fledermaus war keine Fledermaus — sie war das Ei des Vogelstrauss, aus dem ein missmutiges, flugunfähiges Regietheaterküken schlüpfen wollte. Aber es blieb im Ei stecken. Und damit torkelte ich in die regnerische Zürcher Nacht.
von Hans Pfleiderer 26. November 2025
Hamburg, in December, glitters the way cities do when they want to distract you. Christmas lights hang like delicate lies above the streets, offering comfort in a season that has grown thin from giving. The city pretends to be generous. But like so much of the world now, Hamburg has nothing left to give . These are hard days. Taxes and military budgets are the new shadows , and no constellation of white bulbs can keep them from showing. Just behind the Rathaus, down a short street that doesn’t care for tourists, sits the Nica Club —a small, breathing room built for three hundred listeners who, knowingly or not, come here to remember something they once believed about beauty. The place does not perform charm; it simply holds you, the way a small church holds its tired faithful. On this night, Kennedy steps onto the stage. She wears pink regalia and soft slippers , as though she has carried a piece of Brooklyn with her, unbothered by the distance. Before the music begins, she slips into a pair of high heels —shoes that might have been purchased minutes earlier in the nearby cathedrals of Prada or Dior . The gesture is small, almost intimate, and yet carries the weight of a woman choosing her own form of power. Her band—the Kennedy Administration —forms a quiet circle around her: keys, bass, guitar, and a German drummer brought along for the tour. They are not background; they are a conversation, a living rhythm that rises to meet her voice rather than follow it. She sings of love, of life, of honor . Words that, in another age, might have sounded sentimental. But today, coming from Brooklyn—a place still alive but pressured by political nightmares—they sound like a plea, a warning, and a promise carried in the same breath. America is a country wrestling itself in the dark. With Trump’s return to prominence, the old fears have found new teeth. Artists, immigrants, queer folk, the vulnerable, and the brave find themselves once again navigating a nation that wishes to narrow the meaning of freedom. Hans sits in the front left corner , not hiding, not observing from a distance. He swings early, almost involuntarily, the way a soul responds when it recognizes something that once raised it. He has known music like this before—music that does not entertain but confronts, that asks who you are when no one is applauding. Hans grew up in a multicolored household, where jazz albums leaned against film books and civil-rights leaflets. Two families shaped him: the Pfleiderers of Konstanz , whose Protestant order and artistic hunger lived side by side, and the Abernathys of Atlanta , whose walls once carried the echo of marches, hymns, and meetings that hoped to change what America meant. There was also Mick , his baby brother , the younger one. A quiet, brilliant scholar of history , who spent semesters as the only light-skinned student at Morehouse College . A place where memory is not an academic concern but a daily reckoning. Mick moved easily in and out of Juanita and Ralph Abernathy’s home. It was not simply a house; it was a threshold into a community that refused to forget who had paid the price for the country’s promises.
von Hans Pfleiderer 25. November 2025
Pascal Schöning’s Manifesto for a Cinematic Architecture deserves recognition for one essential reminder: architecture is not an accumulation of objects but an experience, a sequence, an unfolding event in time. As an architect, I have often witnessed buildings being celebrated as sculptural trophies while atmosphere, sound, temperature, and movement are treated as secondary concerns. In this sense, Schöning is a necessary irritant to a discipline obsessed with objects. But as someone who works with both buildings and cameras, I also see the limits of his argument — limits he does not cross because his theory slides too far into a filmic worldview, one in which human beings trade their eyes for lenses and their perception for sensors. 1. Spatial experience is not cinematic — it is human Schöning insists that architecture should be understood primarily through time and movement. Partially true. Yes: architecture is temporal. Every step changes perspective. But human perception does not function like a camera. Our experience of space is multi-sensory and embodied: temperature, acoustics, proprioception, texture, memory, smell, social context. Cinema captures only a narrow slice of this. To define architecture through cinema is to reduce spatial experience to framing, sequencing, and light direction. That does not expand architecture; it diminishes it. 2. The camera is not an architectural instrument — it is an apparatus of interpretation Schöning replaces drawings with the camera. This sounds radical, but it is conceptually unstable. A camera records the visible, but architecture includes the non-visible: structure, acoustics, thermal behavior, circulation logic, aging, responsibility, codes, and the lived patterns of occupants. Film excels at atmosphere — not at conveying what makes a building endure, function, and serve. An architect who plans through the camera alone designs pictures, not places. 3. The danger of turning architecture into esotericism Schöning argues that architecture can exist purely as a mental construct. As poetry, this is fine. As theory, it dissolves architecture into metaphysics. Architecture becomes a consciousness experiment, detached from material, construction, and human necessity. As a filmmaker, I accept that cinema creates mental spaces. As an architect, I know that: A building that exists only in thought shelters no one. Architecture may begin in perception, but it must return to earth — to material, gravity, climate, people. 4. Technological romanticism: when the architect becomes a cameraman The manifesto sometimes treats the camera as a transcendental instrument — a replacement for intuition, craft, and responsibility. But the camera is always selective, always partial. Filmic perception is technologically mediated; architectural perception is embodied. Schöning conflates these realms and elevates the technical filter into a superior way of seeing. 5. A cinematic approach remains incomplete Schöning underestimates a simple truth: Architecture begins not with seeing, but with using. A space is meaningful because it: supports life, organizes movement, fosters community, preserves dignity, withstands time. Cinema can depict these qualities, but it cannot generate them. 6. A Personal Reflection: From Esotericism to Human Truth — Meeting Lebbeus Woods In 2005, I visited Lebbeus Woods in his New York City studio to interview him for my film Moonwatcher: A Personal Odyssey. At that time, my approach to filmmaking was still heavily esoteric — steeped in grand themes of Creation and Destruction, mythic cycles, and archetypal figures. Woods’s speculative architectures, his explorations of rupture, instability, and alternative spatial logics, aligned perfectly with the conceptual universe I was trying to articulate. My original idea was to frame the film around Moonwatcher, the proto-human figure from the opening sequence of 2001: A Space Odyssey. Since my protagonist Dan Richter had embodied Moonwatcher in Kubrick’s film, I treated him not simply as an actor, but as a symbolic figure — the first thinker, the first maker, the first being who grasps the tool that can create or destroy. That cosmic reading fit perfectly within the atmosphere of Woods’s studio: fractured models, speculative diagrams, drawings that looked transported from another possible world. But when I assembled the early footage, a realization emerged with growing clarity: the film didn’t work. It was too conceptual, too mythic, too detached from the very person whose life it was meant to explore. The esotericism swallowed the humanity. So I did what both architects and filmmakers eventually learn to do: I returned to the human scale. I stripped away the symbolic scaffolding and focused instead on Dan Richter himself — his life, his struggles, his remarkable journey through the artistic and social revolutions of the 1960s and 70s. When the film became about Richter’s lived reality, not about the archetype he once portrayed, it transformed. It evolved into an unexpectedly epic narrative, grounded in honest voices from the hippie era — people speaking openly about their fears, their hopes, their experiments, their emotional currents. The shift from myth to person revealed a profound truth: speculation may inspire, but humanity gives meaning. It is the same lesson that tempers my critique of Schöning’s cinematic architecture and Woods’s visionary constructs: abstract systems may ignite the imagination, but it is real people — with bodies, histories, and vulnerabilities — who inhabit the world. At the end of the film, Richter delivers a line that encapsulates not only his worldview, but the entire transformation of the project: “There is nothing wrong about nature. Nature works perfectly.” A sentence spoken without myth, without theory — just experience. And that, in the end, is where both architecture and cinema find their deepest truth. Conclusion: Film enriches architecture, but cannot replace it As an architect, I welcome film as a tool that sharpens perception. As a filmmaker, I know that film is always partial, always framed. Schöning is valuable when he reminds us that architecture is an event, not an object. He falters when he implies that people move through space equipped with lenses and chips instead of bodies, memories, and emotions. Architecture may be cinematic — but it is not cinema. It remains one of the last material arts responsible for human life. And no manifesto should make us forget that we inhabit buildings with skin, breath, history, vulnerability, not with sensors and glass. Trailer: Moonwatcher: A Personal Odyssey https://youtu.be/KyZe57DJH94?si=FOLiP28tDFES3kIc
von Hans Pfleiderer 21. November 2025
Es begann in völliger Stille, jener Stille, die entsteht, wenn der Körper etwas weiß, das der Geist noch nicht aussprechen kann. Ich stand in der Halle, die Musik noch kaum hörbar, der Raum voller Menschen, die alle aus verschiedenen Gründen gekommen waren — und doch war keiner so nackt wie ich in diesem Moment. Ich war nicht wegen Tanz gekommen. Ich war gekommen, weil mein Bruder tot war. Ich tanzte, weil ich nicht wusste, wohin sonst mit diesem Gewicht, das mir auf der Brust lag wie ein gestrandeter Wal, tonnenschwer und stumm. Flow Im Flow kreisten meine Füße über den Boden, vorsichtig, fast sanft tastend. Ich fühlte ihn, meinen Bruder, wie eine ferne Erinnerung, die im Sand versinkt. Er, der nicht wie ich das Glück hatte, eine zerstörerische Krankheit zum Stillstand zu bringen. Er, der sich fallen ließ, als ich lernte zu stehen. Er, dem mein Leben zu schwer, meins zu hell war. Ich kreiste, und der Schmerz kreiste mit. Und dann sah ich Virginie. Sie bewegte sich, als würde sie durch unsichtbare Linien geschützt, Linien, die sie selbst gezogen hatte. Eine kleine Prinzessin, perfekt darin, ihre Krone gegen jedes Beben zu verteidigen. Und doch war da etwas in ihrem Blick, ein winziges Erzittern, das sich verriet, als ich mich ihr näherte. Ich bat sie: „Nimm mich an der Hand.“ Nicht als Mann, der etwas will. Sondern als Bruder, der etwas verloren hat. Sie zögerte. Ihr Atem stockte. Aber sie tat es. Und in diesem Augenblick waren wir nicht zwei Fremde, sondern zwei Sterne, die sich kurz im gleichen Orbit trafen. Wie der kleine Prinz und der Fuchs — nicht gezähmt, aber berührt. Staccato Der Rhythmus wechselte. Virginie wurde hartkantig, abrupt, eine Lichtgestalt, die in scharfen Winkeln tanzte. Sie wurde wütend. Überkritisch. Schneidend. Ich verstand es sofort. Wie die Rose, die eitel wurde, weil sie Angst hatte. Wie der kleine Prinz, der floh, weil er ihre Überforderung nicht begriff. Wie der Fuchs, der wusste, dass Annäherung Zeit braucht. Virginie riegelte ab, um nicht verbrannt zu werden. Sie sah meinen inneren Vulkan, die isländische Tiefe, die eruptive Energie. Sie sah Bilder, die ich nicht zügeln kann: Gletscherlicht, Polarwind, das metallische Blau von Askjas Kratersee. Sie sah nicht den Mann. Sie sah das Beben. Und wie die Rose flüsterte sie eigentlich: „Ich fürchte mich. Nicht vor dir. Vor mir, wenn ich zu nah komme.“ Chaos Chaos kam, wie es kommen musste. Wir lösten uns. Wir verloren uns. Wir fanden uns im gleichen Raum, aber nicht mehr im gleichen Schritt. Virginie wurde ein Sturm. Ich wurde ein Fels. Und zwischen uns lag die Unmöglichkeit zweier Intensitäten. Es war im Chaos, dass ich es hörte — den einzigen Ruf, den die Wüste mir damals schenkte: „Fall.“ Eine sanfte Stimme. Keine Drohung. Nur ein Echo. Ein Flüstern, das die Sahara vorbereitete. Ein Vorgeschmack des Sandes, der mich eines Tages prüfen würde. Doch ich fiel nicht. Ich fiel nur in meine eigene Tiefe zurück. Lyrical Im Lyrical lichtete sich alles. Es wurde heller, freundlicher, weiter. Der Schmerz ließ nach, der Körper wurde leicht. Und zum ersten Mal sah ich klar: Virginie war nicht Bestimmung. Sie war ein Hinweis. Eine Wegmarke. Kein Ziel. Denn während ich tanzte, klopften die anderen Stimmen an meine Brust: „Köllun.“ Es bedeutet Berufung. Afrika. Meine Freya. Nicht als Flucht. Als Bedeutung. Freya – die Schöpfende, die Wildleuchtende, die mich ruft, wenn ich mich selbst vergessen habe. Sie sprach nicht von Liebe. Sie sprach von Zeugung. Von Erschaffen. Von Werden. Stillness In der Stille sah ich alles. Ich sah den Polarwolf, mein geschundener Wagen, der sich auf der isländischen Hochebene überschlug, dort, wo nichts drohte. Nicht an den Klippen, wo die Wellen mich hätten verschlucken können, und Njord mich nach Hause geholt hätte. Nein. Flachland. Kälte. Sand. Ein kleiner Hügel, eine Sandverwehung — und ich überschlug mich wie ein Kapitel, das umblättert, ohne gefragt zu werden. Polarwolf trägt noch immer die Wunden. Und ich repariere ihn nicht, weil ich Autos liebe. Ich repariere ihn, weil er mein Spiegel ist. Er trägt meine Geschichte — so wie ich noch immer die Hand meines Bruders trage. Der kleine Prinz spricht Manchmal höre ich die Worte, wenn ich zwischen Schrauben und Rahmen knie: „Du bist verantwortlich für das, was du dir vertraut gemacht hast.“ Das gilt für meinen Bruder. Für Polarwolf. Für meine Projekte. Für das Kind, das ich nähren will — das meine Zukunft ist, nicht mein Erbe. Virginie gehört nicht zu diesen Verantwortungen. Sie wollte nicht gezähmt werden. Und ich wollte sie nicht fesseln. Aber sie zeigte mir etwas: Dass der Fuchs in mir leben will. Dass der Prinz in mir sucht. Dass die Rose in mir verwundbar ist. Dass der Pilot in mir endlich landen will. Der Ruf Afrika ruft. Freya ruft. „Köllun“ ruft. Die Filme rufen. Die Musik ruft. Nur eines ruft nicht mehr: Allein sein. Denn ich weiß jetzt: Hans will nicht allein bleiben. Hans will sein Kind nähren. Hans will das Leben weitergeben, das sein Bruder verlor. Und Virginie? Sie war der Moment, in dem mir klar wurde, dass Liebe nicht immer bleibt, aber manchmal zeigt, wohin man gehen muss.
von Hans Pfleiderer 20. November 2025
Giuseppe Verdis Macbeth als Studie in Schwärze: Das Zürcher Opernhaus zeigt die Wiederaufnahme von Verdis Oper, die 2016 unter Teodor Currentzis Premiere feierte, nun unter der musikalischen Leitung von Gianandrea Noseda und in der ursprünglichen Inszenierung von Barrie Kosky – ein Musiktheater von kompromissloser Konsequenz in Klang, Licht und Denken. Alles ist reduziert, nichts zufällig. Und doch: ein paar überflüssige Kniefälle trüben die makellose Linie. Dunkel leuchtet Verdi Noseda dirigiert Verdi mit glühender Präzision. Kein Pathos, kein Schmelz – stattdessen ein pulsierendes Drama in Blech, Trommeln und tiefen Streichern. Der Klang ist kompakt, unbarmherzig, von innerer Spannung aufgeladen. Verdis Musik erscheint hier als seelische Topographie: Macbeths Linien brechen in sich zusammen, Lady Macbeths Koloraturen schärfen sich zu Raserei, und Macduffs „Ah, la paterna mano“ wird zum einzigen Moment menschlicher Reinheit – ein Lichtstrahl in der Dunkelkammer der Schuld. Stimmen von Gewicht Roman Burdenko singt Macbeth als Mann ohne Halt: ein Bariton, der nicht strahlt, sondern erodiert – das Verlöschen in Tönen. Ewa Płonka erfüllt Verdis Forderung nach der brutta voce exemplarisch: Ihr Sopran ist keine Schönheit, sondern eine Waffe. In „La luce langue“ klingt sie, als schneide sie mit Glas in die Luft. Insung Sim (Banquo) überzeugt mit sonorem Fundament und moralischer Ruhe. Und Omer Kobiljak bringt als Macduf mit seinem hellen Tenor das einzige aufrechte Menschentum in dieses düstere Universum. Bühne, Licht – und ein ehrlicher Vogel Klaus Grünbergs Bühne ist ein schwarzer, lichtgeformter Raum, der mit optischer Tiefenwirkung die Grenzen des Schmuckkästchens Zürcher Opernhaus weit überschreitet – ein Vakuum aus Nebel, Schatten, Körpern. Das Licht erzählt selbst. Und es gibt Requisiten – von seltener Ironie: schwarze, ferngesteuerte Raben, die wie autonome Schattenwesen durch die Szenen gleiten. Einer von ihnen bleibt oft als stummer Zeuge sitzen, wippt, schaut, urteilt – und wenn Macbeth und Lady wieder einmal auf die Knie sinken, schüttelt er fast unmerklich den Kopf. Der ehrlichste Kommentar des Abends. Nur schade, dass der Regisseur ihn nicht bemerkt hat. Kosky und das Körpertheater Barrie Kosky denkt stark, aber lässt zu viel wanken. Seine Regie ist eindrucksvoll konzentriert, manchmal aber gestisch überfrachtet. Wenn die Chormasse aus dem Nichts der Hinterbühne auftaucht, schwanken die Figuren überdeutlich von links nach rechts, als wollten sie mir etwas sagen. Gähnen. Diese Armee des Grauens ist an sich schon bedrückend und überzeugend genug. Dieses ewige Knien, Rutschen, Zaudern – es ersetzt leider Emotion durch Pose. In der Stille wirkt Kosky groß, in Bewegung zu oft manieriert. Dabei könnte gerade die Ruhe, die Verdi schon in die Musik eingeschrieben hat, das wahrhaft Unheimliche offenlegen. Chor und Konzept Der Chor der Oper Zürich (Einstudierung: Klaas-Jan de Groot) singt makellos, besonders im Flüchtlingschor „Patria oppressa“ – gedämpft, klar, erschütternd. Dramaturg Claus Spahn rahmt den Abend als existentielle Tragödie über Macht und Entfremdung. Keine Geschichte mehr – ein Zustand. Fazit Ein Macbeth von seltener Geschlossenheit. Noseda entblättert Verdi bis aufs Nervensystem, Burdenko und Płonka singen mit schneidender Intensität, Grünbergs Licht-Bühne hypnotisiert. Nur die konventionellen Kniefälle und das choreographische Zaudern trüben kurz die Klarheit dieses schwarzen Wunders. Alte Schule. Und doch: Selten war Verdi so konsequent, so modern, so wahr. Verfasst am 12. November 2025 Bildnachweis: Pressefoto Opernhaus Zürich, Мacbeth, Giuseppe Verdi, Foto: Monika Rittershaus
von Hans Pfleiderer 14. November 2025
Einführung Als ich vor ein paar Tagen am Ende des ARTE Journals – jenem redaktionellen, obligatorischen Tauchgang in die internationalen Kulturtiefen und zugleich eines der letzten echten Highlights des linearen Fernsehens – zum ersten Mal von „Wunderkammer“, dem neuesten Werk des Choreografen Marcos Morau und der Musiker Clara Aguilar und Ben Meerwein, hörte, war klar: Die Hummeln in meinem Hintern würden mich in Bewegung setzen – ein Ausflug in die Hauptstadt war unausweichlich. Ekstase Was mich dann im Theater erwartete, war keine Aufführung im herkömmlichen Sinn, sondern ein energetischer Wirbel aus Körpern, Klängen und Kompositionen, der sich allen Kategorien entzog. Schon der Beginn war ein Schlag in die Wahrnehmung: Schummerlicht. Ich musste mir erst den gestrandeten Sand aus den Augen reiben – zu früh aufgestanden, um rechtzeitig den Flieger in Kloten zu erwischen – und fand mich plötzlich in einer anderen Wirklichkeit wieder. Kein sanftes Ankommen, kein Prolog: Das Stück begann, als hätte man mitten in einen laufenden Traum geschaltet. Grelles Licht, zersplitterte Musik, Gestalten, die sich in unbegreiflichen Formationen zusammenfanden, nur um im nächsten Moment wieder auseinanderzufallen. Die Tänzerinnen und Tänzer arbeiteten nicht mit klassischen Linien oder Bewegungsflüssen, sondern mit Groteske als Prinzip – der Körper als Instrument des Unbehagens, als Träger einer expressiven Überforderung. Die Bühne wurde zur lebenden Collage, zu einem Ort, an dem Tableaus entstanden, die zwischen mittelalterlicher Ikonografie, Albtraum und Modeperformance oszillierten. Manchmal schien es, als würde man in das Unterbewusstsein eines expressionistischen Gemäldes eintreten – überdreht, schillernd, aber stets präzise inszeniert. Die Musik tat ihr Übriges: ein elektronisch-archaischer Soundteppich, irgendwo zwischen ritueller Trance, Maschinenklang und clubtauglicher Verfremdung. Aguilar und Meerwein schaffen es, das Absurde und das Körperliche miteinander zu verschmelzen; ihre Klangarchitektur trägt die Bewegung nicht – sie stößt sie an, widerspricht, reizt. „Wunderkammer“ ist kein Stück, das man versteht. Es ist ein Stück, das man erduldet, bestaunt, absorbiert. Es fordert Präsenz – die der Tänzerinnen ebenso wie die des Publikums. Marcos Morau führt den zeitgenössischen Tanz an einen Punkt, an dem er zugleich dekonstruktivistisch zerfällt und phoenixhaft neu entsteht – als rauschhafte Erfahrung zwischen Theater, Club und Kathedrale. Nachklang Beim Verlassen der zweiten Reihe sahen mich die beiden jungen Männer neben mir mit riesigen Augen an. „Did you like this?“ fragte einer von ihnen. Ich grinste – noch halb im Taumel – und sagte: „You bet. I just came to Berlin for that!“ „Really?“ Wir liefen hinaus, als bräuchten wir Gemeinschaft als Therapie – oder einfach nur Gequatsche auf höchstem Niveau nach diesem disruptiven Kulturschock – und landeten nach ein paar Schritten vom Schillertheater entfernt auf der Kantstraße. Dort, im Papaya, verbrachten wir wie die Überlebenden eines innerstädtischen Erdbebens zweisprachig die nächsten vier Stunden zwischen Pad-Thai-Nudeln, Limettenaroma und einem leisen, fast erleichterten Schweigen. Langsam kehrte bei mir wieder Ruhe ein. Die improvisierte Notstandsgruppe verwandelte sich in eine kleine „Friends-for-Future“-Zelle: Zeke Greenwald (32), Administrator bei der Holocaust-Organisation Claims Conference mit Sitz in Berlin, ursprünglich aus Pittsburgh, Pennsylvania. Jörg Ehlert (47), Grundschullehrer aus Leipzig, mit einer bewegten Vergangenheit und einem sensiblen Wesen. Sein Großvater war ein Militarist und sein Vater bei der Stasi – mit allem, was dazugehörte: Privilegien, einem knallroten Mazda zu DDR-Zeiten und West-Comicheften für den kleinen Jörg. Und schließlich ich, Hans (65), Filmemacher, Beobachter, Nomade zwischen den Disziplinen. Drei Generationen an Dudes, zusammengeschweißt im phosphoreszierenden Nachglühen eines Berliner Novemberabends. Draußen nieselte es, das Neonlicht spiegelte sich auf dem Asphalt, und irgendwo in der Ferne heulten die Sirenen. Es war der 9. November 2025. Reflexion: Gesellschaft und Einsamkeit Berlin bricht alle Rekorde – nicht nur in der Kunst, auch in der Einsamkeit. Es gibt keine Stadt auf diesem Planeten, die mehr Einzelgänger auffängt, mehr Seelen im freien Fall in sich aufnimmt und in Bewegung hält. Menschen, die allein leben – nicht, weil es cool ist, sondern weil Berlin gar nicht anders kann. Das Fremde ist hier kein Hindernis, sondern das verbindende Element. Man weiß nichts übereinander, und genau daraus entsteht eine Energie: des Behauptens, des Kennenlernens, des Dominierens und des Zurücknehmens. Eine soziale Choreografie, in der Neugier, Macht und Ohnmacht in stetem Wechsel tanzen – wie auf Moraus Bühne. Ein urbaner Zustand, behagliche Hinterhof-Höhlen in der Hölle der Existenz – wach, verletzlich, offen. Nicht von ungefähr haben Mönche Äonen in ihren Höhlen verbracht und anschließend die Weisheit verkündet. Ich hörte einmal eine treffende Erklärung des Begriffs der Leerheit: „OM, ohne mich!“ das klingt ein bisschen zynisch, gell? Egal. „Im Geiste des Anfängers gibt es viele Möglichkeiten, im Geiste des Experten hingegen nur wenige.“ Dieses Zitat des Zen-Meisters Shunryu Suzuki Roshi aus seinem Buch Zen-Geist, Anfänger-Geist betont die Bedeutung einer offenen, neugierigen und nicht wertenden Haltung beim Herangehen an eine Praxis oder eine Fähigkeit. Es stellt das grenzenlose Potenzial des Anfängers dem eingeschränkten Blickwinkel dessen gegenüber, der glaubt, bereits alles zu wissen. Vielleicht ist genau das Berlins Zustand – ein kollektiver Beginner’s Mind: ein Ort des Dazwischen, des Noch-nicht-Gewussten, des Immer-wieder-Neu-Beginnens. In dieser Stadt bleibt nichts fixiert, nichts vollendet, nichts endgültig verstanden. Und vielleicht liegt darin ihr heimliches Heilmittel – gegen die Einsamkeit, gegen die Überforderung, gegen das Ende der Neugier. Literatur: Shunryu Suzuki: Zen-Geist, Anfänger-Geist. Unterweisungen in Zen-Meditation. Aus dem Amerikanischen von Heinz Seifert, Ro wohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg, 1987 (Originalausgabe: Zen Mind, Beginner’s Mind, Weatherhill, New York/Tokyo 1970) Externer Link: https://www.staatsballett-berlin. de Fotos: Staatsballett Berlin, Pressefotos
von Hans Pfleiderer 22. Mai 2025
In a quiet corner of Bretagne, beneath the heavy skies and between the winding, time-worn streets of Morlaix, a house stands not merely restored but reimagined. This is no ordinary town house. It is a gyre—a vortex of energy, music, conversation, and change. And at its center stands Antony Hequet, a man whose presence is as arresting as his purpose. Antony is the rare kind of individual who defies neat labels. A French-American with the worldly grace of one who has lived deeply, he is at once musician, entrepreneur, activist, philosopher, and something perhaps more elemental—a shamanic figure in modern clothes, channeling ancient insight through a digital age.
von Hans Pfleiderer 17. Mai 2025
Über Viktor Jerofejews Artikel „Sind Sie auch manchmal ein Pferd?“ in DIE ZEIT No. 20 vom 15. Mai 2025 in der Rubrik FEUILLETON Literatur – unter Einbeziehung der Erinnerung an meinen Großvater Hans Gustav Hellenbach Erstens: Das Pferd als Spiegel der Würde Jerofejew beginnt mit der bekannten Pose Wladimir Putins auf einem Pferd – ein Bild der Macht, virilen Stärke und imperialen Pose. Doch dieser öffentliche Heroismus verliert an Glaubwürdigkeit, wenn man ihn vergleicht mit jener stillen, inneren Haltung, wie sie mein Großvater Hans Gustav Hellenbach verkörperte. Hoch zu Ross, in voller Haltung, trug er den Stolz einer untergehenden Klasse durch die Wirren Europas – nicht zur Schau, sondern als Pflicht gegenüber einem inneren Ethos. Er ritt nicht, um zu herrschen, sondern um in Harmonie mit dem Tier das Menschliche zu ehren, das er bald im Dritten Reich nicht mehr erkennen konnte. In seinem Suizid im Mai 1940 in Danzig äußerte sich kein Pathos, sondern ein stilles, erschüttertes Nein zur Entmenschlichung, die um sich griff – auch im besetzten Polen. Zweitens: Pferde als Seismographen des Menschlichen Jerofejew entfaltet in seinem Essay eine literarische Geschichte des Pferdes als moralisches Wesen. In Dostojewskis Albtraum-Metapher wird das geschundene Pferd zum Symbol für den letzten Rest Mitgefühl im Menschen, den selbst der Mörder Raskolnikow nicht abtöten kann. Tolstois „Leinwandmesser“ oder Majakowskis „Gute Behandlung der Pferde“ zeigen: Das Pferd steht für Würde, für Zärtlichkeit, für das, was im Menschen oft unterdrückt wird. Auch mein Großvater wusste das: Er sprach von seinem Wallach Arktur als von einem „kameradschaftlichen Wesen, das mit Blicken spricht“. In einer Zeit, in der Menschen zu Bestien wurden, erkannte er im Tier das letzte humane Gegenüber – ein Erkennen, das ihn wohl auch zur Verzweiflung trieb. Drittens: Eine melancholische Reitergesellschaft Die kulturelle Entfremdung vom Pferd, so Jerofejew, ist auch eine Entfremdung vom Menschlichen. Die industrielle Moderne hat den Reiter vom Tier getrennt, so wie sie den Menschen von seiner Empathie entfremdete. Doch es gibt literarische wie persönliche Rettungsversuche: Jerofejews eigenes Erlebnis mit seinem Pferd Indus auf der Krim endet zwar mit einem Sturz, doch nicht mit Enttäuschung – vielmehr mit stillem Respekt für ein Wesen, das eigene Wege geht. Mein Großvater, in seiner aristokratischen Lebensweise ein Anachronismus, lebte diese Verbindung bis zuletzt. Vielleicht erkannte er – im Moment seines Abschieds – dass man nicht in einer Welt leben kann, in der man den Menschen nicht mehr lieben darf, das Pferd aber umso mehr. So wurde er selbst ein „wenig Pferd“, wie Majakowski schreibt – einer, der lieber aufrecht fiel, als unterwürfig zu leben. H.P. Hör zu, ich verlange eine Reaktion auf meine Worte, warum sollte ich sonst meine Gedanken mitteilen, verdammt!
von Hans Pfleiderer 14. April 2025
Ein kritischer Essay über Michail Chodorkowskis „Wie man einen Drachen tötet: Handbuch für angehende Revolutionäre"
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