Ein Wald von Zeichen, in dem wir leben
"Kunst für Vertreter aus allen Gesellschaftsschichten wie Passanten, Drifter, Leute, die irgendwie im Moment gefangen sind."

Der amerikanische Künstler Doug Aitken ist im Sindelfinger Schauwerk zu sehen. Das Schauwerk ist ein Privatmuseum des im Jahre 2015 verstorbenen Industriellen Peter Schaufler, welcher als Geschäftsführer des Unternehmes BITZER Kühlmaschinenbau GmbH, dem weltweit größten Hersteller von Kompressoren für Kälte- und Klimaanlagen, ein leidenschaftlicher Sammler zeitgenössischer Kunst war. Zu seinen Lebzeiten avancierte er mit über 3500 umfangreicher Werke zu den bedeutendsten Privatsammlern in Deutschland und vermachte seine Sammlung der 2005 gegründeten Schaufler Foundation. Zeitgenössische Kunst umfasst die Kunstwerke, die in der Gegenwart oder in jüngerer Zeit seit den 1960er Jahren entstanden sind und die Vielfalt und Aktualität der kulturellen Landschaft widerspiegeln. Als grundsolider Schwabe lebte er nach dem Motto „Zusammenführung von Unternehmertum mit Wissenschaft, Forschung und Kunst“ und stiftete mit dem Bau eines Museums, dem Kuratieren und der Kunstvermittlung seine Kunstwerke sozusagen der Öffentlichkeit.
Jetzt stehe ich vor dem Dilemma, dass ich nicht genau weiß, was ich über diesen 55-jährigen Mann aus Kalifornien schreiben soll, über diesen weltberühmten Künstler, dem seit seiner preisgekrönten Videoinstallation «Electric Earth», die er 1999 anlässlich der 48. Biennale in Venedig ausgestellt und für die er den Goldenen Löwen bekommen hatte, die Lobeshymnen in die Ohren schallen und die Preise und Auszeichnungen aus den Ohren quellen. Das gilt auch für die Preise, die er mittlerweile aufrufen kann.
In der großflächigen Fertigungshalle des ehemaligen BITZER Stammwerkes stellt das Museum in einer großen Einzelausstellung mit dem Titel „Return to the real“ vier seiner Arbeiten vor.
Die Erste ist Wilderness
von 2022, eine Videoinstallation auf runden Leinwänden. Zu Beginn der Corona-Pandemie nahm Aitken Videos vom täglichen Leben am Strand in der Nähe seines Hauses in Los Angeles auf. Diese Videos wurden mit künstlich generierter Musik hinterlegt und zeigen einen durch Landschaftsaufnahmen und Szenen von Menschen am Strand in Zeitlupe den rhythmisierten Zyklus vom Sonnenaufgang bis zum Einbruch der Nacht. Ich selbst lebte über 10 Jahre an der Westside von Los Angeles und verbrachte viele Abende an eben diesem Strand. Die Menschen kommen, mich eingeschlossen, möglicherweise dorthin, um beim Beobachten des Sonnenuntergangs und beim Hören der tosenden, nicht enden wollenden Brandungsgeräusche über das Universum und den Lauf der Welt zu meditieren, um festzustellen, dass wir völlig insignifikant sind im Hinblick auf das großartige Spektakel. Und die Kommentare seiner Rezensenten, dass man in seine Arbeiten viel hineinlesen kann, wie z.B. dass seine Installationen die Verschmelzung von digitalem und realem Leben sowie die Fragmentierung von Raum und Zeit durch die Digitalisierung reflektieren, sogar Fragen zur Identität, Kommunikation und Entfremdung in der modernen Gesellschaft stellt und als Metapher für zwanghafte Migration aufgrund von Notlagen dient, teile ich kategorisch nicht. Die Fernsehnachrichten können das deutlich besser.
Die Zweite ist migration (empire) von 2008. Das Kunstwerk zeigt auf drei hintereinander stehenden Stahl-Billboards verlassene Städte und Landschaften, gefilmt in Motelzimmern quer durch die USA. Nordamerikanische Wandertiere erkunden die Zimmer, reagieren auf ihre Instinkte und interagieren mit den für sie künstlichen Umgebungen. Mir kommt da in den Sinn, dass der einst als kalifornischer Beachboy bezeichnete Doug Aitken eine Welt kreiert, die wie ein Shooting in einem Studio aussieht und sich mir die Frage stellt, ob er die Akteure bei der Talentagentur CAA in Hollywood angefragt hatte, weil sie entweder berühmt sind oder wie Models aussehen, die Tiere mit inbegriffen. Für mich ist das in keiner Weise eine Konfrontation mit Natur und Künstlichkeit, sondern eine durch und durch inszenierte Artifizialität. Der Künstler selbst ist der Meister seiner Künstlichkeit. Als ein Vertreter von Hollywood hat er sich mittlerweile auch den Klischees und Stereotypen unterworfen. Katinka Fischer von der FAZ nennt es parodistisch „Kreatur trifft Zivilisation.“ (FAZ, Künstler Doug Aitken, Der Waschbär im Motel von Katinka Fischer, 29.09.2023)

Als drittes und viertes Sujet wird 3 Modern Figures (don't forget to breathe) von 2018 und All doors open von 2019 präsentiert. Die Skulpturen bestehen aus transparenten Figuren, die von innen heraus leuchten. Jede Figur strahlt und pulsiert in verschiedenen Farben. Aitken greift in seinen Werken vermutlich auf banal erscheinende, aber in vielerlei Hinsicht gesellschaftstragende, defizitären Phänomene wie Konsum, Reizüberflutung, Scheinsozialen Netzwerke und sich daraus ergebenden Erschöpfung, zurück, ob sich da nun das reale und das digitale Leben verschmelzen oder Raum und Zeit durch die Fähigkeit, gleichzeitig an verschiedenen Orten präsent zu sein, fragmentieren, ist mir ehrlich gesagt zu stilisiert. Man kann für alles irgendwelche passenden Worte finden.
Mein Fazit ist, dass Künstler als Teil eines kulturellen Phänomens betrachtet werden könnten, Klischees zu reproduzieren und zur Oberflächlichkeit beizutragen, anstatt neue Perspektiven zu schaffen oder zum Nachdenken anzuregen. Aber schauen Sie sich die Ausstellung ruhig an. Vielleicht erkundet die Ausstellung die Idee, dass wir in einer Landschaft leben, in der Fiktion und Realität verschwimmen, und dass jede Realitätsversion gleichwertig ist. Er sagt ja selbst: „Ich interessiere mich sehr dafür, Kunstwerke zu schaffen, in denen man sich verliert.“ Das könnte passieren. Aitkens Werke bieten ein vielschichtiges Bild der heutigen Realität und regen Sie möglicherweise an, über den Klimawandel, die Auswirkungen der Digitalisierung und der globalen Vernetzung auf unser Leben nachzudenken und eigene Ideen zur persönlichen Veränderung (das Erbe der Aufklärung) zu bekommen. Letztendlich bleibt die Wahrnehmung von künstlerischen Arbeiten und ihre Bedeutung stark vom individuellen Standpunkt und der Interpretation des Betrachters abhängig.
Doug Aitkens Arbeiten sind noch bis zum 16. Juni 2024 im Schauwerk in Sindelfingen zu sehen.
Bildnachweis: Die Fotos sind Pressefotos, bereitgestellt durch die Schaufler Foundation
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