Einführung
Als ich vor ein paar Tagen am Ende des ARTE Journals – jenem redaktionellen, obligatorischen Tauchgang in die internationalen Kulturtiefen und zugleich eines der letzten echten Highlights des linearen Fernsehens – zum ersten Mal von „Wunderkammer“, dem neuesten Werk des Choreografen Marcos Morau und der Musiker Clara Aguilar und Ben Meerwein, hörte, war klar: Die Hummeln in meinem Hintern würden mich in Bewegung setzen – ein Ausflug in die Hauptstadt war unausweichlich.
Ekstase
Was mich dann im Theater erwartete, war keine Aufführung im herkömmlichen Sinn, sondern ein energetischer Wirbel aus Körpern, Klängen und Kompositionen, der sich allen Kategorien entzog. Schon der Beginn war ein Schlag in die Wahrnehmung: Schummerlicht. Ich musste mir erst den gestrandeten Sand aus den Augen reiben – zu früh aufgestanden, um rechtzeitig den Flieger in Kloten zu erwischen – und fand mich plötzlich in einer anderen Wirklichkeit wieder.
Kein sanftes Ankommen, kein Prolog: Das Stück begann, als hätte man mitten in einen laufenden Traum geschaltet.
Grelles Licht, zersplitterte Musik, Gestalten, die sich in unbegreiflichen Formationen zusammenfanden, nur um im nächsten Moment wieder auseinanderzufallen. Die Tänzerinnen und Tänzer arbeiteten nicht mit klassischen Linien oder Bewegungsflüssen, sondern mit Groteske als Prinzip – der Körper als Instrument des Unbehagens, als Träger einer expressiven Überforderung.
Die Bühne wurde zur lebenden Collage, zu einem Ort, an dem Tableaus entstanden, die zwischen mittelalterlicher Ikonografie, Albtraum und Modeperformance oszillierten. Manchmal schien es, als würde man in das Unterbewusstsein eines expressionistischen Gemäldes eintreten – überdreht, schillernd, aber stets präzise inszeniert.
Die Musik tat ihr Übriges: ein elektronisch-archaischer Soundteppich, irgendwo zwischen ritueller Trance, Maschinenklang und clubtauglicher Verfremdung. Aguilar und Meerwein schaffen es, das Absurde und das Körperliche miteinander zu verschmelzen; ihre Klangarchitektur trägt die Bewegung nicht – sie stößt sie an, widerspricht, reizt.
„Wunderkammer“ ist kein Stück, das man versteht. Es ist ein Stück, das man erduldet, bestaunt, absorbiert. Es fordert Präsenz – die der Tänzerinnen ebenso wie die des Publikums. Marcos Morau führt den zeitgenössischen Tanz an einen Punkt, an dem er zugleich dekonstruktivistisch zerfällt und phoenixhaft neu entsteht – als rauschhafte Erfahrung zwischen Theater, Club und Kathedrale.
Nachklang
Beim Verlassen der zweiten Reihe sahen mich die beiden jungen Männer neben mir mit riesigen Augen an. „Did you like this?“ fragte einer von ihnen. Ich grinste – noch halb im Taumel – und sagte: „You bet. I just came to Berlin for that!“ „Really?“
Wir liefen hinaus, als bräuchten wir Gemeinschaft als Therapie – oder einfach nur Gequatsche auf höchstem Niveau nach diesem disruptiven Kulturschock – und landeten nach ein paar Schritten vom Schillertheater entfernt auf der Kantstraße. Dort, im Papaya, verbrachten wir wie die Überlebenden eines innerstädtischen Erdbebens zweisprachig die nächsten vier Stunden zwischen Pad-Thai-Nudeln, Limettenaroma und einem leisen, fast erleichterten Schweigen.
Langsam kehrte bei mir wieder Ruhe ein. Die improvisierte Notstandsgruppe verwandelte sich in eine kleine „Friends-for-Future“-Zelle: Zeke Greenwald (32), Administrator bei der Holocaust-Organisation Claims Conference mit Sitz in Berlin, ursprünglich aus Pittsburgh, Pennsylvania. Jörg Ehlert (47), Grundschullehrer aus Leipzig, mit einer bewegten Vergangenheit und einem sensiblen Wesen. Sein Großvater war ein Militarist und sein Vater bei der Stasi – mit allem, was dazugehörte: Privilegien, einem knallroten Mazda zu DDR-Zeiten und West-Comicheften für den kleinen Jörg. Und schließlich ich, Hans (65), Filmemacher, Beobachter, Nomade zwischen den Disziplinen.
Drei Generationen an Dudes, zusammengeschweißt im phosphoreszierenden Nachglühen eines Berliner Novemberabends. Draußen nieselte es, das Neonlicht spiegelte sich auf dem Asphalt, und irgendwo in der Ferne heulten die Sirenen. Es war der 9. November 2025.
Reflexion: Gesellschaft und Einsamkeit
Berlin bricht alle Rekorde – nicht nur in der Kunst, auch in der Einsamkeit. Es gibt keine Stadt auf diesem Planeten, die mehr Einzelgänger auffängt, mehr Seelen im freien Fall in sich aufnimmt und in Bewegung hält. Menschen, die allein leben – nicht, weil es cool ist, sondern weil Berlin gar nicht anders kann.
Das Fremde ist hier kein Hindernis, sondern das verbindende Element. Man weiß nichts übereinander, und genau daraus entsteht eine Energie: des Behauptens, des Kennenlernens, des Dominierens und des Zurücknehmens. Eine soziale Choreografie, in der Neugier, Macht und Ohnmacht in stetem Wechsel tanzen – wie auf Moraus Bühne.
Ein urbaner Zustand, behagliche Hinterhof-Höhlen in der Hölle der Existenz – wach, verletzlich, offen. Nicht von ungefähr haben Mönche Äonen in ihren Höhlen verbracht und anschließend die Weisheit verkündet. Ich hörte einmal eine treffende Erklärung des Begriffs der Leerheit: „OM, ohne mich!“ das klingt ein bisschen zynisch, gell? Egal.
„Im Geiste des Anfängers gibt es viele Möglichkeiten, im Geiste des Experten hingegen nur wenige.“
Dieses Zitat des Zen-Meisters Shunryu Suzuki Roshi aus seinem Buch Zen-Geist, Anfänger-Geist betont die Bedeutung einer offenen, neugierigen und nicht wertenden Haltung beim Herangehen an eine Praxis oder eine Fähigkeit. Es stellt das grenzenlose Potenzial des Anfängers dem eingeschränkten Blickwinkel dessen gegenüber, der glaubt, bereits alles zu wissen.
Vielleicht ist genau das Berlins Zustand – ein kollektiver Beginner’s Mind: ein Ort des Dazwischen, des Noch-nicht-Gewussten, des Immer-wieder-Neu-Beginnens. In dieser Stadt bleibt nichts fixiert, nichts vollendet, nichts endgültig verstanden. Und vielleicht liegt darin ihr heimliches Heilmittel – gegen die Einsamkeit, gegen die Überforderung, gegen das Ende der Neugier.
Literatur:
Shunryu Suzuki: Zen-Geist, Anfänger-Geist. Unterweisungen in Zen-Meditation. Aus dem Amerikanischen von Heinz Seifert, Ro wohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg, 1987 (Originalausgabe: Zen Mind, Beginner’s Mind, Weatherhill, New York/Tokyo 1970)
Externer Link:
https://www.staatsballett-berlin. de
Fotos: Staatsballett Berlin, Pressefotos
Wunderkammer: An excess of the senses
An essay on the body, community, and Berlin's Beginner's Mind, November 10, 2025
Introduction
When I first heard about “Wunderkammer,” the latest work by choreographer Marcos Morau and musicians Clara Aguilar and Ben Meerwein, a few days ago at the end of ARTE Journal—that editorial, obligatory dive into the depths of international culture and one of the last real highlights of linear television—it was clear: the ants in my pants would set me in motion—a trip to the capital was inevitable.
Ecstasy
What awaited me in the theater was not a performance in the conventional sense, but an energetic whirlwind of bodies, sounds, and compositions that defied all categories. The beginning alone was a blow to the senses: dim light. I first had to rub the sand out of my eyes—I had gotten up too early to catch my flight in Kloten—and suddenly found myself in a different reality.
No gentle arrival, no prologue: the piece began as if one had tuned in to the middle of a dream.
Bright lights, fragmented music, figures coming together in incomprehensible formations, only to fall apart again the next moment. The dancers did not work with classical lines or flows of movement, but with grotesqueness as a principle – the body as an instrument of discomfort, as the bearer of expressive overload.
The stage became a living collage, a place where tableaux emerged that oscillated between medieval iconography, nightmare, and fashion performance. At times, it seemed as if one were entering the subconscious of an expressionist painting—over-the-top, dazzling, but always precisely staged.
The music did the rest: an electronic-archaic soundscape, somewhere between ritual trance, machine sound, and club-ready alienation. Aguilar and Meerwein manage to fuse the absurd and the physical; their sound architecture does not carry the movement—it triggers it, contradicts it, provokes it.
“Wunderkammer” is not a piece that you understand. It is a piece that you endure, marvel at, absorb. It demands presence – that of the dancers as well as that of the audience. Marcos Morau takes contemporary dance to a point where it simultaneously disintegrates deconstructively and is reborn like a phoenix – as an intoxicating experience between theater, club, and cathedral.
Aftermath
As I left the second row, the two young men next to me looked at me with wide eyes. “Did you like this?” one of them asked. I grinned—still half in a daze—and said, “You bet. I just came to Berlin for that!” “Really?”
We ran out as if we needed community as therapy – or just high-level chatter after this disruptive culture shock – and ended up on Kantstraße a few steps away from the Schiller Theater. There, at Papaya, like survivors of an inner-city earthquake, we spent the next four hours bilingual between pad Thai noodles, lime aroma, and a quiet, almost relieved silence.
Slowly, I began to calm down again. The improvised emergency group turned into a small “Friends for Future” cell: Zeke Greenwald (32), administrator at the Holocaust organization Claims Conference based in Berlin, originally from Pittsburgh, Pennsylvania. Jörg Ehlert (47), elementary school teacher from Leipzig, with an eventful past and a sensitive nature. His grandfather was a militarist and his father was in the Stasi – with all that that entailed: privileges, a bright red Mazda in GDR times, and Western comic books for little Jörg. And finally, me, Hans (65), filmmaker, observer, nomad between disciplines.
Three generations of dudes, welded together in the phosphorescent afterglow of a Berlin November evening. Outside, it was drizzling, the neon light reflected on the asphalt, and somewhere in the distance, sirens were wailing. It was November 9, 2025.
Reflection: Society and loneliness
Berlin breaks all records—not only in art, but also in loneliness. There is no city on this planet that attracts more loners, takes in more souls in free fall, and keeps them moving. People who live alone—not because it's cool, but because Berlin can't do otherwise.
Here, the unfamiliar is not an obstacle, but the connecting element. People know nothing about each other, and this is precisely what creates an energy: of asserting oneself, of getting to know each other, of dominating and of holding back. A social choreography in which curiosity, power, and powerlessness dance in constant alternation – as on Mora's stage.
An urban state, cozy backyard caves in the hell of existence – awake, vulnerable, open. It is no coincidence that monks spent eons in their caves and then proclaimed wisdom. I once heard an apt explanation of the concept of emptiness: “OM, without me!” That sounds a bit cynical, doesn't it? Never mind.
“In the beginner's mind there are many possibilities, but in the expert's mind there are few.”
This quote from Zen master Shunryu Suzuki Roshi, taken from his book Zen Mind, Beginner's Mind, emphasizes the importance of an open, curious, and non-judgmental attitude when approaching a practice or skill. It contrasts the boundless potential of the beginner with the limited perspective of those who believe they already know everything.
Perhaps this is precisely Berlin's condition—a collective beginner's mind: a place of in-between, of not yet knowing, of always starting anew. In this city, nothing remains fixed, nothing is complete, nothing is finally understood. And perhaps therein lies its secret remedy—against loneliness, against overwhelm, against the end of curiosity.
Photographs: Courtesy of Staatsballett Berlin
Sources: Shunryu Suzuki: Zen Mind, Beginner’s Mind,
Weatherhill, New York / Tokyo, 1970,
ISBN: 0-8348-0079-9