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Buchrezension

Hans Pfleiderer • Apr. 08, 2024

Rike Scheffler, Lava. Rituale, Reihe Lyrik Band 78, kookbooks, Berlin, 2023


In der faszinierenden Welt der Lyrik eröffnet der vorliegende Gedichtband der preisgekrönten Berliner Schriftstellerin Rike Scheffler neue Horizonte. Dieses Werk ist kein gewöhnlicher Gedichtband; es fordert, verblüfft und belohnt seine Leserinnen und Leser auf eine Weise, die so ungewöhnlich ist wie seine Autorin. Schefflers Sprache entfaltet sich nicht sofort in ihrer vollen Pracht. Stattdessen verbirgt sie sich zunächst hinter einer Fassade aus Symbolen, Bildern und Rätseln, die beim ersten Lesen Widerstand und Befremden hervorrufen können. Doch dieser anfängliche Unverstand lädt zu einer tieferen Auseinandersetzung ein, zu einer Reise, auf der man die nuancierte Schönheit und Sensibilität ihrer Verse entdeckt.

Dieser Gedichtband ist mehr als nur eine Sammlung von Gedichten; er ist ein interaktives Erlebnis. Durch ein ungewöhnliches Layout und die Einbindung von farbigen Bildern, die der Leserschaft die Freiheit lassen, sie an vorgesehenen Stellen einzukleben oder nach eigenem Ermessen im Buch zu verteilen, wird ein einzigartiger Dialog zwischen Text und LeserInnen, zwischen Dichterin und Welt geschaffen. Rike Scheffler fordert uns auf, nicht nur passive Konsumenten ihrer Worte zu sein, sondern aktive Teilnehmer an der Gestaltung des Leseerlebnisses. Indem wir physisch in das Buch eingreifen, nehmen wir nicht nur von seinem Inhalt Besitz, sondern lassen auch seine Essenz von uns Besitz ergreifen.

Ein Blick auf die Rückseite des Einbandes gibt die Inhaltsangabe preis und skizziert in sieben Kapiteln die Sammlung von Gedichten, die sich über verschiedene Zeiträume erstrecken. Jedes Gedicht oder Gruppierung ist von der Gegenwart bis in die ferne Zukunft einem bestimmten Zeitraum zugeordnet. 1 to do wird als zeitloses Gedicht präsentiert, während 2 kleine Energien und 3 Wasser werden, Wal auf das späte 20. Jahrhundert bzw. das erste Jahrzehnt des 3. Jahrtausends verweisen. 4 bergen und 5 vom doppelten Tod behandeln zukünftige Zeiträume wie 2100 bis 2127 bzw. das Jahr 2143. 6 Ankunft, pastell wird auf etwa 2210 datiert, während 7 Rituale in einer unbestimmten Zeit nach 2300 verortet wird. Diese Kompilation von Gedichten bietet einen Einblick in historische Perioden und Zukunftsvisionen, die in poetischer Form erkundet werden.

Am Anfang der Kapitel werden Zitate von namhaften VertreterInnen von Literatur, Feminismus, Wissenschaft, Aktivismus, und Kunst vorangestellt. Das erste Kapitel wird durch ein Zitat der Afro-Amerikanischen Künstlerin und Essayistin Renee Gladman aus Atlanta, Georgia eröffnet: 
„The sentence is at once a map of where we have gone and where we wish to go.“

Hier wird vermittelt, dass Karten mehr als geografische Darstellungen sind. Sie symbolisieren und leiten unsere Lebensreisen, indem sie vergan gene Erfahrungen mit zukünftigen Zielen verknüpfen und sowohl unsere persönlichen als auch kollektiven Geschichten und Ambitionen reflektieren. Vergangenheit und Zukunft sind miteinander verbunden, wobei unsere Erfahrungen und Handlungen unsere zukünftigen Bestrebungen beeinflussen. 
Nun zum ersten Gedicht:

Das Gedicht erforscht die Suche nach einer intimen Verbindung zwischen zwei Personen. Durch die Verwendung einfacher, aber kraftvoller Bilder wird dieser Prozess der Annäherung und des Zusammenseins dargestellt. Die Suche findet zwischen Kissen, Knochen und Türrahmen statt, wobei diese Elemente sowohl körperliche als auch architektonische Bedeutungen tragen und möglicherweise auf Hindernisse und Grenzen hinweisen. Das Bild eines leeren, weißen Treppenhauses versinnbildlicht einen Raum des Neubeginns, der nach dem Leerstand darauf wartet, mit gemeinsamen Erfahrungen gefüllt zu werden. Die Nähe zwischen den Personen und das Eintauchen in die andere wird als kosmische Begegnung beschrieben, die sie in neue Welten führt. Schließlich wird die Liebe zwischen ihnen als zeitlos und symbiotisch dargestellt. Insgesamt illustriert das Gedicht die Suche nach einer tiefen und zeitlosen Verbindung, die über physische und emotionale Grenzen hinwegreicht.


Die Gedichte in den folgenden Kapiteln weben ein komplexes Netz aus Bildern und metaphysischen Reflexionen, die die Durchdringung von Mensch, Natur und Kosmos erkunden. Gemeinsam ist ihnen eine tiefe Naturverbundenheit. Natur wird als lebendiges Wesen dargestellt, das ständig mit dem menschlichen Sein interagiert. Vergänglichkeit und die ewigen Kreisläufe des Lebens werden in Variationen aus Buchstaben und Zeichen thematisiert, wobei die Natur sowohl als Kulisse als auch als aktiver Teilnehmer in diesem Prozess fungiert. Durch die Verwendung von Bildern, die sowohl Schönheit als auch Verfall einfangen, laden die Gedichte dazu ein, über die menschliche Erfahrung in einer Welt nachzudenken, die zugleich wunderbar und unerbittlich ist. Es gibt Dichotomien zwischen Leben und Tod, Wachstum und Zerstörung sowie die Suche nach einer Bedeutung in der Transzendenz des Alltäglichen. Sie erforschen in vielen Spielformen die Beziehung des Menschen zur Natur, zur Technologie und zum Kosmos, wobei sie tiefe Sorgen um Umweltzerstörung, Verlust von Biodiversität und die Suche nach Sinn in einer sich rasch verändernden Welt thematisieren. Die Gedichte nutzen eine reiche, oft kryptische Bildsprache, lösen Sprache auf, um vielschichtige Themen wie Klimawandel, Technologisierung des Alltags, das Erbe und die Zukunft der menschlichen Zivilisation sowie die tiefen emotionalen und spirituellen Auswirkungen dieser Entwicklungen auf das Individuum zu behandeln. Obwohl einige der Texte auf den ersten Blick wie ein Code erscheinen können, offenbaren sie bei näherer Betrachtung eine intensive Auseinandersetzung mit Sprache als Form der Verständigung in der Welt und des Verstehens eben dieser mit Blick auf die drängenden Fragen unserer Zeit. Will sie eine Brücke schlagen zwischen der materiellen Welt und der menschlichen Sehnsucht nach Verbindung und Bedeutung? Geht es um die Erkundung, das Berühren und Verstehen der Welt in all ihren Formen und Schichten, der Anerkennung ihrer Zärtlichkeit und Stärke, und um die eigene Verwandlung als Künstlerin?


Die Gedichte im letzten Kapitel Rituale offenbaren ein Bewusstsein für die Vergänglichkeit des Lebens und die Unausweichlichkeit des Todes, während es gleichzeitig die Schönheit und das Mysterium des Augenblicks feiert. Die Erzählerin, sprich Autorin, betrachtet sich selbst als ein Wesen, das aus den Elementen der Erde geformt ist und eine tiefe Verbindung zur Natur empfindet. Die Erwähnung von „Sheila“ bleibt rätselhaft, entweder als Geliebte oder als Symbol für das kollektive Bewusstsein und die Verbindung zu anderen Wesen. Die Natur wird durch Symbole wie Lavaklippen, Moos und Steine dargestellt, die eine Sehnsucht nach Verbindung und Erkenntnis zeigen. Die Interaktion mit der Natur ermöglicht Zärtlichkeit und fördert den Mut zur Erkundung. Die Druckertinte spricht von einem Zustand des Seins, der über das Physische hinausgeht und den Geist berührt, und von einer Verbindung zu etwas Größerem, wo die Grenzen zwischen Mensch und Natur verschwimmen. Die Verbindung zu den tiefsten Ebenen des Seins und zu den Gezeiten des Lebens wird durch die körperliche Erfahrung des Atmens und des Fühlens hervorgehoben. Die Gedichte betonen die ständige Transformation von Materie und das Risiko, das mit echter Verbindung und Verständnis einhergeht. Sie bleiben eine Suche nach Verständnis und Identität.



In mea verba:

Welches Zartsein darf ich spüren?

Narben von Stürzen, weich und tief,

Eine Einladung, das Innere zu berühren,

Vulva, offene Hand. 


Die Vʊlvɐ, Venushügel, Schamlippen, Klitoris, der Scheidenvorhof, sehr weiblich.

In mea verba:

Sein in der Welt, mit der Welt verbunden,

Unsicher, wie mit dir, dem Unbekannten, zu sein,

Ein inneres Zittern sanft umarmen.


Hier sind feine körperliche, emotionale Berührungspunkte des Lebens und des Seins. Es beginnt mit der Reflexion über die Zärtlichkeit, wie wir erlauben, uns selbst zu erfahren – sei es durch die Narben unserer Vergangenheit oder die sanfte Berührung einer Hand. Diese Einladung zur Intimität und Verbindung (ent)zieht sich (uns) durch das gesamte Werk, es bleibt zwiespältig, ein Ringen, Anklingen, als ob Innen und Außen, Menschliches und Natürliches, eins werden.

In mea verba:

Die rechteckigen Fenster der Seele erkunden,

Mit Fühlern der Empfindung, zeichne ich Kreise auf Siliziumblatt,

Lernen, uns frei zu bewegen, eine Frage an der Klippe hängend,

Zeit, dieser Körper, einst zum Vergehen bestimmt,

Ein Rabe lädt mich ein, seine Welt zu streifen.


Die Erkundung des Selbst und der Umwelt wird mit Metaphern wie „Fühlern der Empfindung“ [Fühler] auf einem „Siliziumblatt“ [Silicaschrift] dargestellt. Diese Bilder evozieren eine Verbundenheit mit der Technologie und der Natur, ein ständiges Lernen und eine Anpassung an die Welt um uns herum. Die Erwähnung eines Raben, den die Erzähler:n in ihre Welt einführt, symbolisiert einen Übergang ins Existentielle, eine Veränderung, eines Wunsches nach Loslösung und Akzeptanz des Unbekannten.

In mea verba:

Immer wird er ein Stück Zukunft flüstern,

Seine Klauen kennen das Herz der Erde,

Über menschliche Grenzen hinaus.


Komplex und vielschichtig setzt sich das Werk mit Themen wie Berührung, Verbindung und Transformation auseinander. Es nutzt eine reiche, bildhafte Sprache, um die Verflechtung des Menschlichen mit der Natur, dem Körperlichen und dem Geistigen zu erforschen.


Dieser Gedichtband lädt dazu ein, die gewohnten Pfade der Lyrik zu verlassen und sich auf ein literarisches Abenteuer einzulassen, das sowohl herausfordernd als auch zutiefst bereichernd ist. Es geht hier nicht nur um das Lesen von Gedichten; es geht um die Erfahrung, Teil eines künstlerischen Prozesses zu sein, der die Grenzen dessen, was ein Gedichtband sein kann, neu definiert. Tauchen Sie ein in diese Welt voller Rätsel und Schönheit, und lassen Sie sich von Rike Schefflers Talent verzaubern und herausfordern.


ISDN: 978-3-948336-14-1

26,00 €

Abdruck der Gedichte "to do" und "Rituale 79" mit freundlicher Genehmigung von Frau Daniela Seel, kookbooks, www.kookbooks.de

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