21 Lessons for the 21st Century
websitebuilder • 14. April 2019
Hätte ich nicht besser kommentieren können
Schreibkram - paperwork

Ich bin der Wolf, den sie nicht bändigten, sondern banden.
Nicht weil ich wild war, sondern weil ich sah – und verletzt war. Ich patrouillierte an den Rändern der Welt, dort, wo sich das Eis in haushohen Wänden von der Masse löst, in die Fluten stürzt und Bände spricht, während die Menschen gezwungenermaßen so tun, als schwiegen sie. Sie schwiegen, weil sie in ideologischer oder materieller Not waren – sie waren wider Erwarten schon wieder übergangen, nicht befördert, nicht gesehen worden. Und doch hörte ich zu, wie sie erst flüsterten, dann im Suff krakeelten und schließlich bösartig über andere redeten: über die Armen, über die Reichen, über „die da unten“ und „die da oben“.
Nie aber mit ihnen. So ist es geblieben. Nur die Gewänder haben sich geändert. Heute heißen sie Redaktionen. Über die Elenden und die Unantastbaren Ziehen wir zwei Bestseller aus dem Regal einer verschwindenden Institution: dem Buchladen.
* Und siehe da: Anna Mayr steigt hinab. Julia Friedrichs steigt hinauf. Die eine blickt in die Schächte der Gesellschaft, wo Formulare schwerer wiegen als Leben. Die andere in die verglasten Höhen, wo Geld sich selbst rechtfertigt. Beide sind Journalistinnen, beide Akademikerinnen, beide Teil jenes Systems, das sie beschreiben – und brauchen, oder gebrauchen. Beide erzählen von Gruppen, die in den Medien ständig vorkommen und doch sprachlos bleiben. In diesen Erzählungen erscheinen die Armen als Fall, die Reichen als Phänomen. Beide als Objekte. Denn das ist der eigentliche Skandal unserer Zeit: Die Betroffenen kommen nicht zu Wort. Es wird über sie berichtet. Journalismus als gezähmte Jagd Der Journalismus nennt das Aufklärung. Ich nenne es Zähmung. Lassen Sie mich ein paar Beispiele nennen: In der ZEIT spricht man sanft über soziale Ungleichheit, als wäre sie ein Naturphänomen. Präzise, klug, aber stets aus sicherer Höhe. Die New York Times katalogisiert Armut und Reichtum mit moralischem Ernst, doch ihre Stimme bleibt die des liberalen Staates: korrekt, distanziert, institutionell. Der New Yorker ästhetisiert beides – Elend wie Exzess werden zur literarischen Landschaft, wunderschön, fern, beinahe harmlos. Im Fernsehen ist es ein klein wenig gröber: Die ARD erklärt, ordnet ein, moderiert – Betroffene dürfen sprechen, aber nur in O-Tönen: kurz, geschnitten, entkräftet. Al Jazeera gibt den Ausgeschlossenen global mehr Raum, doch auch hier wird Leid oft zur geopolitischen Evidenz. Fox News schließlich kennt keine Ränder, nur Feindbilder: Armut ist persönliches Versagen, Reichtum moralischer Beweis. Dort sprechen die Betroffenen gar nicht – sie werden benutzt. Überall dasselbe mediale Muster: Sichtbarkeit ersetzt Stimme. Sensationalismus und die neue Ghettoisierung Reichtum wird exotisiert.
Armut wird pathologisiert. Zurück zu unserer Auswahl aus dem Regal – solange es noch existiert: Crazy Rich funktioniert, weil es erlaubt, in Tresore zu blicken, ohne sie zu öffnen. Die Elenden schmerzt, weil es zeigt, dass das System funktioniert – nur nicht für alle. Doch beide Bücher laufen Gefahr, genau das zu tun, was sie kritisieren: Sie markieren Ränder, wo Verbindungen sichtbar gemacht werden müssten. Der Wolf in mir weiß das. Ich setze zu einem heiseren Jaulen an: Es gibt kein Oben ohne Unten. Kein Unten ohne Oben. Autobiografie als Wunde – Distanz als Schild Anna Mayr schreibt mit offener Haut. Ihre Biografie ist keine Zierde, sie heult auf wie ein Motor mit vielen Kilometern. Sie riskiert etwas: Glaubwürdigkeit durch Verletzlichkeit, Angriff durch Nähe. Julia Friedrichs bleibt hingegen geschützt. Ihre Distanz ist professionell – und politisch bequem. Sie riskiert weniger und gewinnt gerade dadurch Reichweite. Beides ist Journalismus.
Aber nur eines tut weh. Der gezähmte Wolf spricht zuletzt Ich bin gezähmt, ja. Ich produziere Dokumentarfilme, schreibe Kolumnen, Essays, Analysen, meinen Blog. Ich kenne die Sprache der Akademien, die Etikette der Redaktionen, die Eliten der Beschöniger. Ich war in Hollywood – bis ich es nicht mehr ertragen konnte: die Zähmung. Doch ich erinnere mich an eine Zeit, in der Geschichten nicht über Menschen erzählt wurden, sondern von ihnen. Der Journalismus unserer Gegenwart ist klug, moralisch, vielfach preisgekrönt – und doch oft feige. Er spricht für andere, weil er ihnen nicht zutraut, selbst zu sprechen. Oder schlimmer: weil ihre Stimmen das System stören würden, das ihn bezahlt. Ich heule nicht. Ich jaule. Und ich vergesse nicht. * Julia Friedrichs, Crazy Rich: Die geheime Welt der Superreichen, Berlin Verlag, 2024, ISBN: 978-3827015129 https://www.amazon.de/Crazy-Rich-geheime-Welt-Superreichen/dp/382701512X Anna Mayr, Die Elenden: Warum unsere Gesellschaft Arbeitslose verachtet und sie dennoch braucht, Rowohlt Taschenbuch, 2023, ISBN: 978-3499011245 https://www.amazon.de/Die-Elenden-Gesellschaft-Arbeitslose-verachtet/dp/3499011247/ Bild: HP Entertainment

Die Inszenierung von Anne Bernreitner ist nicht bloß ein Eigentor, sondern ein Volltreffer ins eigene Gesicht — eine Operetten-Implosion, bei der selbst Johann Strauss im Jenseits nach einer Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung greifen würde. Das Opernhaus Zürich hat Die Fledermaus nicht aus ihrem Traum gerissen, nein — es hat sie betäubt, seziert, falsch zusammengenäht und dann stolz behauptet, es handle sich um ein zeitgenössisches Update . Die Stromleitung, von der Strauss seine funkelnde Spannung bezog, wurde von Bernreitner & Co. kurzerhand an den Starkstromkasten des politischen Moralunterrichts angeschlossen. Jeder Ton durfte nur noch durch, wenn er zuerst durch den Genderfilter, den Selbstoptimierungsprüfer und den identitätspolitischen TÜV geschickt worden war. Währenddessen zahlte das Publikum Preise, bei denen selbst die Zürcher Immobilienbranche errötet. 335 Franken für eine Premiere, die sich aufführte, als wäre sie ein pädagogischer Wandertag mit musikalischem Materialrecycling . Und dann die seichten Lobhudeleien im Anschluss, die Beschönigungsrede eines frisch installierten Intendanten, der noch immer den Duft der Vertragsmappe im Haar trägt — alles garniert mit billigem Sekt, der vermutlich die gleiche Herkunft hat wie die Ideen des Abends: aus der Abteilung „Alles muss weg“ . Der Abend fühlte sich an wie ein gut gemeinter Kindergeburtstag, organisiert von Menschen, die gleichzeitig Angst vor Luftballons, Kuchen und Spaß haben. Das wirkliche Drama beginnt aber dort, wo Strauss in Zürich zum Fallbeispiel eines gesellschaftlichen Therapieseminars umfunktioniert wurde. Operette? Nein — Zwangsbeglückung mit theoretischem Kunstdünger. Man schaufelte so viel Jelinek, Menasse, Jung, Adichie und GCI darüber, dass darunter selbst ein Mammut erfrieren würde. Es war, als hätte jemand gesagt: „Die Fledermaus ist fröhlich — das können wir so nicht stehen lassen! Schnell, bringt Ernsthaftigkeit! Ernsthaftigkeit!! Und Tango! Und Textbausteine!“ Und jemand anders rief: „Wir retten das Stück, indem wir es vollständig austauschen!“ Der Abend war eine politische PowerPoint-Präsentation im Kostüm einer Operette . Ein dramaturgischer Zauberkasten, aber leider einer, bei dem jedes Fach mit denselben drei Tricks gefüllt ist: 1. Ironisierung, 2. Dekonstruktion, 3. Überdeutung und am Ende das große Finale: „Wir wissen’s besser als Strauss.“ Lustig nur, dass Strauss seit 1874 ununterbrochen gespielt wird — Bernreitner muss erst noch beweisen, dass sie morgen in Zürich noch jemand kennt, der nicht beruflich dazu verpflichtet ist. Und so verließ ich den Saal wie jemand, der erkennt, dass er nicht in einer Operette saß, sondern in einem soziopolitischen Escape Room , aus dem man nur durch spontane Selbstachtung entkommt. Ich glitt die Treppe hinunter, bestellte Champagner mit derselben Verzweiflung, mit der andere Menschen auf Schmerzmittel zugreifen, und erhob mein Glas auf eine Erkenntnis, die mich unerwartet tröstete: Die Zürcher Fledermaus war keine Fledermaus — sie war das Ei des Vogelstrauss, aus dem ein missmutiges, flugunfähiges Regietheaterküken schlüpfen wollte. Aber es blieb im Ei stecken. Und damit torkelte ich in die regnerische Zürcher Nacht.

Hamburg, in December, glitters the way cities do when they want to distract you. Christmas lights hang like delicate lies above the streets, offering comfort in a season that has grown thin from giving. The city pretends to be generous. But like so much of the world now, Hamburg has nothing left to give . These are hard days. Taxes and military budgets are the new shadows , and no constellation of white bulbs can keep them from showing. Just behind the Rathaus, down a short street that doesn’t care for tourists, sits the Nica Club —a small, breathing room built for three hundred listeners who, knowingly or not, come here to remember something they once believed about beauty. The place does not perform charm; it simply holds you, the way a small church holds its tired faithful. On this night, Kennedy steps onto the stage. She wears pink regalia and soft slippers , as though she has carried a piece of Brooklyn with her, unbothered by the distance. Before the music begins, she slips into a pair of high heels —shoes that might have been purchased minutes earlier in the nearby cathedrals of Prada or Dior . The gesture is small, almost intimate, and yet carries the weight of a woman choosing her own form of power. Her band—the Kennedy Administration —forms a quiet circle around her: keys, bass, guitar, and a German drummer brought along for the tour. They are not background; they are a conversation, a living rhythm that rises to meet her voice rather than follow it. She sings of love, of life, of honor . Words that, in another age, might have sounded sentimental. But today, coming from Brooklyn—a place still alive but pressured by political nightmares—they sound like a plea, a warning, and a promise carried in the same breath. America is a country wrestling itself in the dark. With Trump’s return to prominence, the old fears have found new teeth. Artists, immigrants, queer folk, the vulnerable, and the brave find themselves once again navigating a nation that wishes to narrow the meaning of freedom. Hans sits in the front left corner , not hiding, not observing from a distance. He swings early, almost involuntarily, the way a soul responds when it recognizes something that once raised it. He has known music like this before—music that does not entertain but confronts, that asks who you are when no one is applauding. Hans grew up in a multicolored household, where jazz albums leaned against film books and civil-rights leaflets. Two families shaped him: the Pfleiderers of Konstanz , whose Protestant order and artistic hunger lived side by side, and the Abernathys of Atlanta , whose walls once carried the echo of marches, hymns, and meetings that hoped to change what America meant. There was also Mick , his baby brother , the younger one. A quiet, brilliant scholar of history , who spent semesters as the only light-skinned student at Morehouse College . A place where memory is not an academic concern but a daily reckoning. Mick moved easily in and out of Juanita and Ralph Abernathy’s home. It was not simply a house; it was a threshold into a community that refused to forget who had paid the price for the country’s promises.

Pascal Schöning’s Manifesto for a Cinematic Architecture deserves recognition for one essential reminder: architecture is not an accumulation of objects but an experience, a sequence, an unfolding event in time. As an architect, I have often witnessed buildings being celebrated as sculptural trophies while atmosphere, sound, temperature, and movement are treated as secondary concerns. In this sense, Schöning is a necessary irritant to a discipline obsessed with objects. But as someone who works with both buildings and cameras, I also see the limits of his argument — limits he does not cross because his theory slides too far into a filmic worldview, one in which human beings trade their eyes for lenses and their perception for sensors. 1. Spatial experience is not cinematic — it is human Schöning insists that architecture should be understood primarily through time and movement. Partially true. Yes: architecture is temporal. Every step changes perspective. But human perception does not function like a camera. Our experience of space is multi-sensory and embodied: temperature, acoustics, proprioception, texture, memory, smell, social context. Cinema captures only a narrow slice of this. To define architecture through cinema is to reduce spatial experience to framing, sequencing, and light direction. That does not expand architecture; it diminishes it. 2. The camera is not an architectural instrument — it is an apparatus of interpretation Schöning replaces drawings with the camera. This sounds radical, but it is conceptually unstable. A camera records the visible, but architecture includes the non-visible: structure, acoustics, thermal behavior, circulation logic, aging, responsibility, codes, and the lived patterns of occupants. Film excels at atmosphere — not at conveying what makes a building endure, function, and serve. An architect who plans through the camera alone designs pictures, not places. 3. The danger of turning architecture into esotericism Schöning argues that architecture can exist purely as a mental construct. As poetry, this is fine. As theory, it dissolves architecture into metaphysics. Architecture becomes a consciousness experiment, detached from material, construction, and human necessity. As a filmmaker, I accept that cinema creates mental spaces. As an architect, I know that: A building that exists only in thought shelters no one. Architecture may begin in perception, but it must return to earth — to material, gravity, climate, people. 4. Technological romanticism: when the architect becomes a cameraman The manifesto sometimes treats the camera as a transcendental instrument — a replacement for intuition, craft, and responsibility. But the camera is always selective, always partial. Filmic perception is technologically mediated; architectural perception is embodied. Schöning conflates these realms and elevates the technical filter into a superior way of seeing. 5. A cinematic approach remains incomplete Schöning underestimates a simple truth: Architecture begins not with seeing, but with using. A space is meaningful because it: supports life, organizes movement, fosters community, preserves dignity, withstands time. Cinema can depict these qualities, but it cannot generate them. 6. A Personal Reflection: From Esotericism to Human Truth — Meeting Lebbeus Woods In 2005, I visited Lebbeus Woods in his New York City studio to interview him for my film Moonwatcher: A Personal Odyssey. At that time, my approach to filmmaking was still heavily esoteric — steeped in grand themes of Creation and Destruction, mythic cycles, and archetypal figures. Woods’s speculative architectures, his explorations of rupture, instability, and alternative spatial logics, aligned perfectly with the conceptual universe I was trying to articulate. My original idea was to frame the film around Moonwatcher, the proto-human figure from the opening sequence of 2001: A Space Odyssey. Since my protagonist Dan Richter had embodied Moonwatcher in Kubrick’s film, I treated him not simply as an actor, but as a symbolic figure — the first thinker, the first maker, the first being who grasps the tool that can create or destroy. That cosmic reading fit perfectly within the atmosphere of Woods’s studio: fractured models, speculative diagrams, drawings that looked transported from another possible world. But when I assembled the early footage, a realization emerged with growing clarity: the film didn’t work. It was too conceptual, too mythic, too detached from the very person whose life it was meant to explore. The esotericism swallowed the humanity. So I did what both architects and filmmakers eventually learn to do: I returned to the human scale. I stripped away the symbolic scaffolding and focused instead on Dan Richter himself — his life, his struggles, his remarkable journey through the artistic and social revolutions of the 1960s and 70s. When the film became about Richter’s lived reality, not about the archetype he once portrayed, it transformed. It evolved into an unexpectedly epic narrative, grounded in honest voices from the hippie era — people speaking openly about their fears, their hopes, their experiments, their emotional currents. The shift from myth to person revealed a profound truth: speculation may inspire, but humanity gives meaning. It is the same lesson that tempers my critique of Schöning’s cinematic architecture and Woods’s visionary constructs: abstract systems may ignite the imagination, but it is real people — with bodies, histories, and vulnerabilities — who inhabit the world. At the end of the film, Richter delivers a line that encapsulates not only his worldview, but the entire transformation of the project: “There is nothing wrong about nature. Nature works perfectly.” A sentence spoken without myth, without theory — just experience. And that, in the end, is where both architecture and cinema find their deepest truth. Conclusion: Film enriches architecture, but cannot replace it As an architect, I welcome film as a tool that sharpens perception. As a filmmaker, I know that film is always partial, always framed. Schöning is valuable when he reminds us that architecture is an event, not an object. He falters when he implies that people move through space equipped with lenses and chips instead of bodies, memories, and emotions. Architecture may be cinematic — but it is not cinema. It remains one of the last material arts responsible for human life. And no manifesto should make us forget that we inhabit buildings with skin, breath, history, vulnerability, not with sensors and glass. Trailer: Moonwatcher: A Personal Odyssey https://youtu.be/KyZe57DJH94?si=FOLiP28tDFES3kIc

Es begann in völliger Stille, jener Stille, die entsteht, wenn der Körper etwas weiß, das der Geist noch nicht aussprechen kann. Ich stand in der Halle, die Musik noch kaum hörbar, der Raum voller Menschen, die alle aus verschiedenen Gründen gekommen waren — und doch war keiner so nackt wie ich in diesem Moment. Ich war nicht wegen Tanz gekommen. Ich war gekommen, weil mein Bruder tot war. Ich tanzte, weil ich nicht wusste, wohin sonst mit diesem Gewicht, das mir auf der Brust lag wie ein gestrandeter Wal, tonnenschwer und stumm. Flow Im Flow kreisten meine Füße über den Boden, vorsichtig, fast sanft tastend. Ich fühlte ihn, meinen Bruder, wie eine ferne Erinnerung, die im Sand versinkt. Er, der nicht wie ich das Glück hatte, eine zerstörerische Krankheit zum Stillstand zu bringen. Er, der sich fallen ließ, als ich lernte zu stehen. Er, dem mein Leben zu schwer, meins zu hell war. Ich kreiste, und der Schmerz kreiste mit. Und dann sah ich Virginie. Sie bewegte sich, als würde sie durch unsichtbare Linien geschützt, Linien, die sie selbst gezogen hatte. Eine kleine Prinzessin, perfekt darin, ihre Krone gegen jedes Beben zu verteidigen. Und doch war da etwas in ihrem Blick, ein winziges Erzittern, das sich verriet, als ich mich ihr näherte. Ich bat sie: „Nimm mich an der Hand.“ Nicht als Mann, der etwas will. Sondern als Bruder, der etwas verloren hat. Sie zögerte. Ihr Atem stockte. Aber sie tat es. Und in diesem Augenblick waren wir nicht zwei Fremde, sondern zwei Sterne, die sich kurz im gleichen Orbit trafen. Wie der kleine Prinz und der Fuchs — nicht gezähmt, aber berührt. Staccato Der Rhythmus wechselte. Virginie wurde hartkantig, abrupt, eine Lichtgestalt, die in scharfen Winkeln tanzte. Sie wurde wütend. Überkritisch. Schneidend. Ich verstand es sofort. Wie die Rose, die eitel wurde, weil sie Angst hatte. Wie der kleine Prinz, der floh, weil er ihre Überforderung nicht begriff. Wie der Fuchs, der wusste, dass Annäherung Zeit braucht. Virginie riegelte ab, um nicht verbrannt zu werden. Sie sah meinen inneren Vulkan, die isländische Tiefe, die eruptive Energie. Sie sah Bilder, die ich nicht zügeln kann: Gletscherlicht, Polarwind, das metallische Blau von Askjas Kratersee. Sie sah nicht den Mann. Sie sah das Beben. Und wie die Rose flüsterte sie eigentlich: „Ich fürchte mich. Nicht vor dir. Vor mir, wenn ich zu nah komme.“ Chaos Chaos kam, wie es kommen musste. Wir lösten uns. Wir verloren uns. Wir fanden uns im gleichen Raum, aber nicht mehr im gleichen Schritt. Virginie wurde ein Sturm. Ich wurde ein Fels. Und zwischen uns lag die Unmöglichkeit zweier Intensitäten. Es war im Chaos, dass ich es hörte — den einzigen Ruf, den die Wüste mir damals schenkte: „Fall.“ Eine sanfte Stimme. Keine Drohung. Nur ein Echo. Ein Flüstern, das die Sahara vorbereitete. Ein Vorgeschmack des Sandes, der mich eines Tages prüfen würde. Doch ich fiel nicht. Ich fiel nur in meine eigene Tiefe zurück. Lyrical Im Lyrical lichtete sich alles. Es wurde heller, freundlicher, weiter. Der Schmerz ließ nach, der Körper wurde leicht. Und zum ersten Mal sah ich klar: Virginie war nicht Bestimmung. Sie war ein Hinweis. Eine Wegmarke. Kein Ziel. Denn während ich tanzte, klopften die anderen Stimmen an meine Brust: „Köllun.“ Es bedeutet Berufung. Afrika. Meine Freya. Nicht als Flucht. Als Bedeutung. Freya – die Schöpfende, die Wildleuchtende, die mich ruft, wenn ich mich selbst vergessen habe. Sie sprach nicht von Liebe. Sie sprach von Zeugung. Von Erschaffen. Von Werden. Stillness In der Stille sah ich alles. Ich sah den Polarwolf, mein geschundener Wagen, der sich auf der isländischen Hochebene überschlug, dort, wo nichts drohte. Nicht an den Klippen, wo die Wellen mich hätten verschlucken können, und Njord mich nach Hause geholt hätte. Nein. Flachland. Kälte. Sand. Ein kleiner Hügel, eine Sandverwehung — und ich überschlug mich wie ein Kapitel, das umblättert, ohne gefragt zu werden. Polarwolf trägt noch immer die Wunden. Und ich repariere ihn nicht, weil ich Autos liebe. Ich repariere ihn, weil er mein Spiegel ist. Er trägt meine Geschichte — so wie ich noch immer die Hand meines Bruders trage. Der kleine Prinz spricht Manchmal höre ich die Worte, wenn ich zwischen Schrauben und Rahmen knie: „Du bist verantwortlich für das, was du dir vertraut gemacht hast.“ Das gilt für meinen Bruder. Für Polarwolf. Für meine Projekte. Für das Kind, das ich nähren will — das meine Zukunft ist, nicht mein Erbe. Virginie gehört nicht zu diesen Verantwortungen. Sie wollte nicht gezähmt werden. Und ich wollte sie nicht fesseln. Aber sie zeigte mir etwas: Dass der Fuchs in mir leben will. Dass der Prinz in mir sucht. Dass die Rose in mir verwundbar ist. Dass der Pilot in mir endlich landen will. Der Ruf Afrika ruft. Freya ruft. „Köllun“ ruft. Die Filme rufen. Die Musik ruft. Nur eines ruft nicht mehr: Allein sein. Denn ich weiß jetzt: Hans will nicht allein bleiben. Hans will sein Kind nähren. Hans will das Leben weitergeben, das sein Bruder verlor. Und Virginie? Sie war der Moment, in dem mir klar wurde, dass Liebe nicht immer bleibt, aber manchmal zeigt, wohin man gehen muss.

Giuseppe Verdis Macbeth als Studie in Schwärze: Das Zürcher Opernhaus zeigt die Wiederaufnahme von Verdis Oper, die 2016 unter Teodor Currentzis Premiere feierte, nun unter der musikalischen Leitung von Gianandrea Noseda und in der ursprünglichen Inszenierung von Barrie Kosky – ein Musiktheater von kompromissloser Konsequenz in Klang, Licht und Denken. Alles ist reduziert, nichts zufällig. Und doch: ein paar überflüssige Kniefälle trüben die makellose Linie. Dunkel leuchtet Verdi Noseda dirigiert Verdi mit glühender Präzision. Kein Pathos, kein Schmelz – stattdessen ein pulsierendes Drama in Blech, Trommeln und tiefen Streichern. Der Klang ist kompakt, unbarmherzig, von innerer Spannung aufgeladen. Verdis Musik erscheint hier als seelische Topographie: Macbeths Linien brechen in sich zusammen, Lady Macbeths Koloraturen schärfen sich zu Raserei, und Macduffs „Ah, la paterna mano“ wird zum einzigen Moment menschlicher Reinheit – ein Lichtstrahl in der Dunkelkammer der Schuld. Stimmen von Gewicht Roman Burdenko singt Macbeth als Mann ohne Halt: ein Bariton, der nicht strahlt, sondern erodiert – das Verlöschen in Tönen. Ewa Płonka erfüllt Verdis Forderung nach der brutta voce exemplarisch: Ihr Sopran ist keine Schönheit, sondern eine Waffe. In „La luce langue“ klingt sie, als schneide sie mit Glas in die Luft. Insung Sim (Banquo) überzeugt mit sonorem Fundament und moralischer Ruhe. Und Omer Kobiljak bringt als Macduf mit seinem hellen Tenor das einzige aufrechte Menschentum in dieses düstere Universum. Bühne, Licht – und ein ehrlicher Vogel Klaus Grünbergs Bühne ist ein schwarzer, lichtgeformter Raum, der mit optischer Tiefenwirkung die Grenzen des Schmuckkästchens Zürcher Opernhaus weit überschreitet – ein Vakuum aus Nebel, Schatten, Körpern. Das Licht erzählt selbst. Und es gibt Requisiten – von seltener Ironie: schwarze, ferngesteuerte Raben, die wie autonome Schattenwesen durch die Szenen gleiten. Einer von ihnen bleibt oft als stummer Zeuge sitzen, wippt, schaut, urteilt – und wenn Macbeth und Lady wieder einmal auf die Knie sinken, schüttelt er fast unmerklich den Kopf. Der ehrlichste Kommentar des Abends. Nur schade, dass der Regisseur ihn nicht bemerkt hat. Kosky und das Körpertheater Barrie Kosky denkt stark, aber lässt zu viel wanken. Seine Regie ist eindrucksvoll konzentriert, manchmal aber gestisch überfrachtet. Wenn die Chormasse aus dem Nichts der Hinterbühne auftaucht, schwanken die Figuren überdeutlich von links nach rechts, als wollten sie mir etwas sagen. Gähnen. Diese Armee des Grauens ist an sich schon bedrückend und überzeugend genug. Dieses ewige Knien, Rutschen, Zaudern – es ersetzt leider Emotion durch Pose. In der Stille wirkt Kosky groß, in Bewegung zu oft manieriert. Dabei könnte gerade die Ruhe, die Verdi schon in die Musik eingeschrieben hat, das wahrhaft Unheimliche offenlegen. Chor und Konzept Der Chor der Oper Zürich (Einstudierung: Klaas-Jan de Groot) singt makellos, besonders im Flüchtlingschor „Patria oppressa“ – gedämpft, klar, erschütternd. Dramaturg Claus Spahn rahmt den Abend als existentielle Tragödie über Macht und Entfremdung. Keine Geschichte mehr – ein Zustand. Fazit Ein Macbeth von seltener Geschlossenheit. Noseda entblättert Verdi bis aufs Nervensystem, Burdenko und Płonka singen mit schneidender Intensität, Grünbergs Licht-Bühne hypnotisiert. Nur die konventionellen Kniefälle und das choreographische Zaudern trüben kurz die Klarheit dieses schwarzen Wunders. Alte Schule. Und doch: Selten war Verdi so konsequent, so modern, so wahr. Verfasst am 12. November 2025 Bildnachweis: Pressefoto Opernhaus Zürich, Мacbeth, Giuseppe Verdi, Foto: Monika Rittershaus

Einführung Als ich vor ein paar Tagen am Ende des ARTE Journals – jenem redaktionellen, obligatorischen Tauchgang in die internationalen Kulturtiefen und zugleich eines der letzten echten Highlights des linearen Fernsehens – zum ersten Mal von „Wunderkammer“, dem neuesten Werk des Choreografen Marcos Morau und der Musiker Clara Aguilar und Ben Meerwein, hörte, war klar: Die Hummeln in meinem Hintern würden mich in Bewegung setzen – ein Ausflug in die Hauptstadt war unausweichlich. Ekstase Was mich dann im Theater erwartete, war keine Aufführung im herkömmlichen Sinn, sondern ein energetischer Wirbel aus Körpern, Klängen und Kompositionen, der sich allen Kategorien entzog. Schon der Beginn war ein Schlag in die Wahrnehmung: Schummerlicht. Ich musste mir erst den gestrandeten Sand aus den Augen reiben – zu früh aufgestanden, um rechtzeitig den Flieger in Kloten zu erwischen – und fand mich plötzlich in einer anderen Wirklichkeit wieder. Kein sanftes Ankommen, kein Prolog: Das Stück begann, als hätte man mitten in einen laufenden Traum geschaltet. Grelles Licht, zersplitterte Musik, Gestalten, die sich in unbegreiflichen Formationen zusammenfanden, nur um im nächsten Moment wieder auseinanderzufallen. Die Tänzerinnen und Tänzer arbeiteten nicht mit klassischen Linien oder Bewegungsflüssen, sondern mit Groteske als Prinzip – der Körper als Instrument des Unbehagens, als Träger einer expressiven Überforderung. Die Bühne wurde zur lebenden Collage, zu einem Ort, an dem Tableaus entstanden, die zwischen mittelalterlicher Ikonografie, Albtraum und Modeperformance oszillierten. Manchmal schien es, als würde man in das Unterbewusstsein eines expressionistischen Gemäldes eintreten – überdreht, schillernd, aber stets präzise inszeniert. Die Musik tat ihr Übriges: ein elektronisch-archaischer Soundteppich, irgendwo zwischen ritueller Trance, Maschinenklang und clubtauglicher Verfremdung. Aguilar und Meerwein schaffen es, das Absurde und das Körperliche miteinander zu verschmelzen; ihre Klangarchitektur trägt die Bewegung nicht – sie stößt sie an, widerspricht, reizt. „Wunderkammer“ ist kein Stück, das man versteht. Es ist ein Stück, das man erduldet, bestaunt, absorbiert. Es fordert Präsenz – die der Tänzerinnen ebenso wie die des Publikums. Marcos Morau führt den zeitgenössischen Tanz an einen Punkt, an dem er zugleich dekonstruktivistisch zerfällt und phoenixhaft neu entsteht – als rauschhafte Erfahrung zwischen Theater, Club und Kathedrale. Nachklang Beim Verlassen der zweiten Reihe sahen mich die beiden jungen Männer neben mir mit riesigen Augen an. „Did you like this?“ fragte einer von ihnen. Ich grinste – noch halb im Taumel – und sagte: „You bet. I just came to Berlin for that!“ „Really?“ Wir liefen hinaus, als bräuchten wir Gemeinschaft als Therapie – oder einfach nur Gequatsche auf höchstem Niveau nach diesem disruptiven Kulturschock – und landeten nach ein paar Schritten vom Schillertheater entfernt auf der Kantstraße. Dort, im Papaya, verbrachten wir wie die Überlebenden eines innerstädtischen Erdbebens zweisprachig die nächsten vier Stunden zwischen Pad-Thai-Nudeln, Limettenaroma und einem leisen, fast erleichterten Schweigen. Langsam kehrte bei mir wieder Ruhe ein. Die improvisierte Notstandsgruppe verwandelte sich in eine kleine „Friends-for-Future“-Zelle: Zeke Greenwald (32), Administrator bei der Holocaust-Organisation Claims Conference mit Sitz in Berlin, ursprünglich aus Pittsburgh, Pennsylvania. Jörg Ehlert (47), Grundschullehrer aus Leipzig, mit einer bewegten Vergangenheit und einem sensiblen Wesen. Sein Großvater war ein Militarist und sein Vater bei der Stasi – mit allem, was dazugehörte: Privilegien, einem knallroten Mazda zu DDR-Zeiten und West-Comicheften für den kleinen Jörg. Und schließlich ich, Hans (65), Filmemacher, Beobachter, Nomade zwischen den Disziplinen. Drei Generationen an Dudes, zusammengeschweißt im phosphoreszierenden Nachglühen eines Berliner Novemberabends. Draußen nieselte es, das Neonlicht spiegelte sich auf dem Asphalt, und irgendwo in der Ferne heulten die Sirenen. Es war der 9. November 2025. Reflexion: Gesellschaft und Einsamkeit Berlin bricht alle Rekorde – nicht nur in der Kunst, auch in der Einsamkeit. Es gibt keine Stadt auf diesem Planeten, die mehr Einzelgänger auffängt, mehr Seelen im freien Fall in sich aufnimmt und in Bewegung hält. Menschen, die allein leben – nicht, weil es cool ist, sondern weil Berlin gar nicht anders kann. Das Fremde ist hier kein Hindernis, sondern das verbindende Element. Man weiß nichts übereinander, und genau daraus entsteht eine Energie: des Behauptens, des Kennenlernens, des Dominierens und des Zurücknehmens. Eine soziale Choreografie, in der Neugier, Macht und Ohnmacht in stetem Wechsel tanzen – wie auf Moraus Bühne. Ein urbaner Zustand, behagliche Hinterhof-Höhlen in der Hölle der Existenz – wach, verletzlich, offen. Nicht von ungefähr haben Mönche Äonen in ihren Höhlen verbracht und anschließend die Weisheit verkündet. Ich hörte einmal eine treffende Erklärung des Begriffs der Leerheit: „OM, ohne mich!“ das klingt ein bisschen zynisch, gell? Egal. „Im Geiste des Anfängers gibt es viele Möglichkeiten, im Geiste des Experten hingegen nur wenige.“ Dieses Zitat des Zen-Meisters Shunryu Suzuki Roshi aus seinem Buch Zen-Geist, Anfänger-Geist betont die Bedeutung einer offenen, neugierigen und nicht wertenden Haltung beim Herangehen an eine Praxis oder eine Fähigkeit. Es stellt das grenzenlose Potenzial des Anfängers dem eingeschränkten Blickwinkel dessen gegenüber, der glaubt, bereits alles zu wissen. Vielleicht ist genau das Berlins Zustand – ein kollektiver Beginner’s Mind: ein Ort des Dazwischen, des Noch-nicht-Gewussten, des Immer-wieder-Neu-Beginnens. In dieser Stadt bleibt nichts fixiert, nichts vollendet, nichts endgültig verstanden. Und vielleicht liegt darin ihr heimliches Heilmittel – gegen die Einsamkeit, gegen die Überforderung, gegen das Ende der Neugier. Literatur: Shunryu Suzuki: Zen-Geist, Anfänger-Geist. Unterweisungen in Zen-Meditation. Aus dem Amerikanischen von Heinz Seifert, Ro wohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg, 1987 (Originalausgabe: Zen Mind, Beginner’s Mind, Weatherhill, New York/Tokyo 1970) Externer Link: https://www.staatsballett-berlin. de Fotos: Staatsballett Berlin, Pressefotos

In a quiet corner of Bretagne, beneath the heavy skies and between the winding, time-worn streets of Morlaix, a house stands not merely restored but reimagined. This is no ordinary town house. It is a gyre—a vortex of energy, music, conversation, and change. And at its center stands Antony Hequet, a man whose presence is as arresting as his purpose. Antony is the rare kind of individual who defies neat labels. A French-American with the worldly grace of one who has lived deeply, he is at once musician, entrepreneur, activist, philosopher, and something perhaps more elemental—a shamanic figure in modern clothes, channeling ancient insight through a digital age.
Über Viktor Jerofejews Artikel „Sind Sie auch manchmal ein Pferd?“ in DIE ZEIT No. 20 vom 15. Mai 2025 in der Rubrik FEUILLETON Literatur – unter Einbeziehung der Erinnerung an meinen Großvater Hans Gustav Hellenbach Erstens: Das Pferd als Spiegel der Würde Jerofejew beginnt mit der bekannten Pose Wladimir Putins auf einem Pferd – ein Bild der Macht, virilen Stärke und imperialen Pose. Doch dieser öffentliche Heroismus verliert an Glaubwürdigkeit, wenn man ihn vergleicht mit jener stillen, inneren Haltung, wie sie mein Großvater Hans Gustav Hellenbach verkörperte. Hoch zu Ross, in voller Haltung, trug er den Stolz einer untergehenden Klasse durch die Wirren Europas – nicht zur Schau, sondern als Pflicht gegenüber einem inneren Ethos. Er ritt nicht, um zu herrschen, sondern um in Harmonie mit dem Tier das Menschliche zu ehren, das er bald im Dritten Reich nicht mehr erkennen konnte. In seinem Suizid im Mai 1940 in Danzig äußerte sich kein Pathos, sondern ein stilles, erschüttertes Nein zur Entmenschlichung, die um sich griff – auch im besetzten Polen. Zweitens: Pferde als Seismographen des Menschlichen Jerofejew entfaltet in seinem Essay eine literarische Geschichte des Pferdes als moralisches Wesen. In Dostojewskis Albtraum-Metapher wird das geschundene Pferd zum Symbol für den letzten Rest Mitgefühl im Menschen, den selbst der Mörder Raskolnikow nicht abtöten kann. Tolstois „Leinwandmesser“ oder Majakowskis „Gute Behandlung der Pferde“ zeigen: Das Pferd steht für Würde, für Zärtlichkeit, für das, was im Menschen oft unterdrückt wird. Auch mein Großvater wusste das: Er sprach von seinem Wallach Arktur als von einem „kameradschaftlichen Wesen, das mit Blicken spricht“. In einer Zeit, in der Menschen zu Bestien wurden, erkannte er im Tier das letzte humane Gegenüber – ein Erkennen, das ihn wohl auch zur Verzweiflung trieb. Drittens: Eine melancholische Reitergesellschaft Die kulturelle Entfremdung vom Pferd, so Jerofejew, ist auch eine Entfremdung vom Menschlichen. Die industrielle Moderne hat den Reiter vom Tier getrennt, so wie sie den Menschen von seiner Empathie entfremdete. Doch es gibt literarische wie persönliche Rettungsversuche: Jerofejews eigenes Erlebnis mit seinem Pferd Indus auf der Krim endet zwar mit einem Sturz, doch nicht mit Enttäuschung – vielmehr mit stillem Respekt für ein Wesen, das eigene Wege geht. Mein Großvater, in seiner aristokratischen Lebensweise ein Anachronismus, lebte diese Verbindung bis zuletzt. Vielleicht erkannte er – im Moment seines Abschieds – dass man nicht in einer Welt leben kann, in der man den Menschen nicht mehr lieben darf, das Pferd aber umso mehr. So wurde er selbst ein „wenig Pferd“, wie Majakowski schreibt – einer, der lieber aufrecht fiel, als unterwürfig zu leben. H.P. Hör zu, ich verlange eine Reaktion auf meine Worte, warum sollte ich sonst meine Gedanken mitteilen, verdammt!
